Alte Führer durch das Erzgebirge.

Von Emil Müller.

Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 15. Jg. Nr. 10 v. Oktober 1895, S. 139 – 147.

Es ist erfreulich, beobachten zu können, daß die Schönheiten unseres Erzgebirges in immer weiteren Kreisen gerechte Würdigung und liebreiche Beurteilung finden und des Aufsuchens und Anschauens und Genießens mehr und mehr wert erachtet werden. Wie ein finsterer, böser Nebel hat auf unserem Erzgebirge Jahrhunderte lang das Vorurteil, als sei das Gebirge eine rauhe Wildnis, eine grauenvolle Wüstenei, gelegen. Freilich sind auch ehedem andere Gebirge, wohl Gebirge überhaupt, von „Vergnügungsreisenden” gemieden worden. Bis der Zeitgeschmack, der vor einem Jahrhundert noch nur Anmut und Zierlichkeit, die sanfte und weiche, ja die geputzte und gestutzte Form auch in der Landschaft als „schön” gelten ließ, sich wandelte und nun Bewunderung lehrte gerade für die ursprüngliche, die jungfräuliche Natur, die Natur in machtvoller Großartigkeit und Wildheit, haben auch selbst die Alpen z. B. sich gefallen lassen müssen, daß ihre Herrlichkeiten mit Gleichmut übergangen, wohl gar geschmäht worden sind. Als unverständliches Unterfangen und Wahnwitz wäre vor Zeiten angesehen worden: die steilen Bergriesen zu erklimmen, um dem Herzen und Gemüt damit ein köstlich Labsal zu geben, um es an einen Born zu führen, der ihm der Erquickung beste beut. Und selbst dem besuchtesten aller deutschen Mittelgebirge, der sächsischen Schweiz, war nicht von jeher die zärtliche Bevorzugung beschieden, die es jetzt genießt; denn aus der Schilderung seiner Reise, die der bekannte K. A. Engelhardt 1792 dahin unternahm, erkennen wir, „daß der Sinn für die Schönheiten der Felsenwildnis bei E. noch nicht in dem Maße wie heute entwickelt ist, daß er vielmehr, dem Geschmacke der damaligen Zeit entsprechend, an den sanften, durch die Kultur beeinflußten Reizen der Elbgelände von Pillnitz und Meißen augenscheinlich mehr Gefallen findet.” Doch auch dann noch, als die Wunder der Alpen und der sächsischen Schweiz | und anderer Gebirge entdeckt waren und gepriesen wurden, zog der Strom der Touristen vorüber an dem Erzgebirge. Es ist dies daraus zu erklären, daß neben der Rauheit und Wildheit der Bodenform ( — „schroffe, kahle Felswände, öde Hochflächen, umhergerollte, ja getürmte Steinblöcke, unheimlich düstere Schluchten, morastige Thäler” — ) ganz besonders auch die klimatische Rauheit von den mit den verschiedensten Erzeugnissen herumziehenden Händlern und von den fahrenden Spielleuten betont worden ist. War es diesen dem Erzgebirge besonders eigentümlicher Hausierern doch von geschäftlichem Nutzen, wenn sie als Bewohner eines kläglichen und armseligen Berglandes Mitleid erregen und sich verzeihlicherweise eines gewissen Märtyrerheldentums rühmen konnten. So ist es also gekommen, daß man unserer verlästerten prächtigen Höhen nur mit Frösteln und gelindem Schauer gedacht und zu einer etwa nötigen Reise dahin unter wahrem „Grauen” sich gerüstet haben mag. Das Grauen davor, in unserem Gebirge sein oder gar bleiben zu müssen, besteht noch vor einigen Dezennien, wie uns das z. B. die Entstehungsgeschichte der Lehrerbildungsanstalt zu Annaberg (gegründet 1842) kund thut. Im Obererzgebirge fehlte es im Anfange des Jahrhunderts an Lehrkräften, und Mag. Schumann, Superintendent in Annaberg wendet sich in einem Gesuche (vom 15. Oktober 1835) um Errichtung eines Seminars zu Annaberg an die zuständige Behörde. Darin sagt er: „… es ist nun ja nicht möglich, die Männer alle, die wir brauchen, aus dem Niederlande zu beziehen, es erscheint dies auch nicht ratsam. Mehrere derselben verstarben infolge des anderen Klimas und der veränderten Lebensweise, viele gewöhnten sich zum mindesten schwer an einen Landstrich, vor dem sie seit ihrer Jugend mit Grauen erfüllt waren …”. Diesen Grund anzuführen, fand niemand für sonderbar, vielmehr für recht wertvoll, wie denn bei den Verhandlungen im Landtage, als diese Angelegenheit zur Sprache kam, jene Beobachtungen vielfach ernstlich bestätigt worden und bei dem schließlichen Zustandekommen des Planes gewiß von Einfluß gewesen sind. So spricht am 13. April 1840 Abgeordneter Wieland: „… es will den jungen Leuten aus den niederen Landesteilen aber durchaus nicht gefallen; sie können sich nicht einrichten und sehnen sich in ihr Niederland zurück; für unser rauhes Gebirge sind diejenigen am brauchbarsten, die da geboren und erzogen sind”. Am 8. Mai 1843 sagt Kultusminister von Wietersheim: „… man hat die Erfahrung gemacht, daß die Schullehrer aus anderen Landesteilen Bedenken tragen, selbst höher dotierte Stellen im oberen Gebirge anzunehmen …”. Am 13. Juli 1843 hören wir in der 1. Kammer Crusius über diese Angelegenheit referieren und ihn in ähnlicher Weise sich aussprechen. Und endlich sagen im Jahre 1845 die begleitenden Ausführungen des Ministeriums (zu dem Postulat: 3500 Thaler für ein zu errichtendes größeres Seminar zu A.): „… man kann sogar hinzusetzen, daß in einzelnen Fällen selbst der frühe Tod von Schullehrern im kräftigsten Alter als Folge des rauhen Klimas und des gebirgischen Terrains zu betrachten gewesen ist …”.

Gottlob nun! es ist anders worden. Tausende freuen sich jetzt alljährlich, wenn sie in den weiten, weiten prächtigen Waldungen unseres Gebirges wieder einmal streifen können und ansteigen die Höhen, um Ausblick zu halten auf ein von Gott nicht gezeichnetes, nein ausgezeichnetes Bergland.

reilich haben viele Männer ihre Stimme erst erheben müssen, das Erzgebirge in seiner wahren, unentstellten Gestalt zu kennzeichnen, ehe jenes festgewurzelte Vorurteil geworfen wurde. Alle diese Bestrebungen auf dieses Ziel zu verdienen darum unsere ganze dankbare Achtung. Wir wissen, welchen Wert wir den Werken vor allem unseres trefflichen M. Chr. Lehmann, ferner des Petrus Albinus, des M. G. F. Oesfeld, des D. J. Merkel, des Pastors C. W. Hering u.a. beizumessen haben, wollen hier jedoch einmal hinweisen auf jene älteren Schriften, die als eigentliche Pfadzeiger und Führer gelten wollen oder können und mehr oder weniger die ausgesprochene Tendenz haben, die falschen Vorstellungen über unser Erzgebirge zu widerlegen und dem Aufsuchen desselben, ja dem längeren Verweilen in ihm das Wort zu reden.

Nur zum Teil gilt dies zunächst von dem zu Anfang unseres Jahrhunderts (1805) in der Schäferschen Buchhandlung zu Leipzig erschienenen Büchlein, in dem ein Leipziger, Karl Ruhheim, seine Reise durch das Erzgebirge schildert, eine Reise, wie sie in dieser zeitlichen Ausdehnung, schon infolge der anderen Verkehrsmöglichkeiten, kaum mehr zu verzeichnen sein wird; denn den ersten Brief schreibt er den 6. Mai 1799 in Waldenburg, während der letzte den 19. Juni in Chemnitz zum Absenden gelangt. Über das kleine, aber ziemlich interessante Büchlein ist in diesem Blatte (Jahrgang 1883 und 84) | schon Besprechung gegeben worden, darum sei auf jene Artikel verwiesen.

Ruhheim beobachtet fleißig und holt sich Kenntnis nicht allein über das Land, sondern studiert auch die Leute und ihre hervorragenden Eigenheiten. Ganz natürlich bringt der Bürger der Buchhandelstadt ein lebhaftes Interesse den Buchdruckereien und Buchhandlungen in den Gebirgsstädten entgegen. Immer fragt er auch nach dem Vorhandensein einer Bibliothek und läßt sich bei der Auskunft nicht genügen, sondern informiert sich weiter auch über den Bestand der Bibliothek. So sagt er z. B. von der Bibliothek zu Waldenburg: „Die Bücher des gemeinen Haufens, das heißt handfeste Ritterromane, fade Geistermärchen und erbärmliche Operntexte waren hier in großer Anzahl. Daß da Cramer, Spieß, Große, Schikaneder und schreibselige Konsorten den ersten Platz einnehmen, läßt sich leicht vermuten. Desto mehr aber vermißte man hier gute, nützliche und klassische Werke. Reisebeschreibungen oder andere statistische Sachen waren selten. Fast ganz unbekannt waren hier die besten Dichter, Prosaiker und Theaterschriftsteller der Deutschen; Wieland, Goethe, Schiller, Bürger, Matthisson, Salis, Lafontaine, Jean Paul, Stark, Iffland, Tiedge und andere waren nicht hier aufgenommen”. Gern sucht er berühmte Leute auf, mag das nun der Arzt oder der Pfarrer des Ortes sein, weiter ein durch Ruf ausgezeichneter Musiker, ein geschickter Uhrmacher oder sonst eine Person von Ansehen im Orte. Regelmäßig pflegt er Verkehr mit dem Rektor der Schule, dem Konrektor, dem Kantor und den anderen Lehrern, wenn die städtischen Schulen deren weitere haben. In Lößnitz besucht er den geistlichen Inspektor Oesfeld, von dem er sagt, daß er sich „durch allerhand kleine Schriften und Abhandlungen in verschiedenen Blättern bekannt” gemacht habe. Freilich war ihm hier Hauptinteresse, die Gattin Oesfeld’s zu sehen und zu hören, da dieselbe eine Schwester des Dichters Bürger war. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt er den Betrieb des Gewerbes; auch bewegt er sich gern in größeren Gesellschaften und sucht daher in den meisten Städten die Hauptvergnügungsplätze auf, um mitten im heiteren Treiben die Volksseele am besten belauschen zu können. Über die landschaftlichen Schönheiten ist er des Lobes voll, und sein lebhaftes Naturell gerät im Anschauen derselben nach Weise der süßlichen Sentimentalität jener Zeit in schwärmerisches Entzücken. Freilich berührt es uns dagenen seltsam, wenn er sein Urteil abgiebt in Sachen des Künstlerischen, da die heutigen Ansichten darin dem damaligen Zeitgeschmacke schroff entgegenstehen. In einer Zeit, in der die meisten unserer Gotteshäuser ihres plastischen, wie auch farbigen Schmuckes beraubt wurden, indem man ersteren ausbrach und kostbare Wandgemälde einfach übertünchte, verstehen sich die Aussprüche, die er über verschiedene gebirgische Kirchen abgiebt, welche entgegen dem Zeitgeschmack in diesem Punkte konservativ geblieben waren. Was sagt ein Annaberger von heute dazu, wenn sein Stolz, das prächtige Gotteshaus mit dem herrlichen Mittelaltare, von Ruhheim „nur eine ungeheure Steinmasse” genannt und eben dieser Altar als „nicht geschmackvoll gearbeitet” bezeichnet wird? In der Schwarzenberger Kirche kommen ihm „besonders geschmacklos vor die vielen Schnörkel und Bilder an der Decke”. Die Chemnitzer Kirche ist ein „altes, dunkles und winkeliges Gebäude”. Mit großem Unwillen aber redet er von der Kapelle in Weipert, die man ihm in Annaberg als sehr sehenswert gerühmt hat. Er läßt sich vom Pater, der „außerordentlich artig war und selbst mitging”, die Kirche zeigen und nennt sie dann — „ein ganz gemeines Gebäude mit vielen Schnörkeln, die aber nicht weniger als hübsch waren”. Umgekehrt rühmt er einige neue oder umgebaute Kirchen, z. B. die Kirche zu Hohenstein. „Ich sahe sie und wünschte, daß man mehrere solche Kirchen haben möchte. Eine edle Simplizität, nicht die geringste Pracht, herrschte in derselben. Ganz weiß und schmucklos war ihr Anstrich, keine Schnörkeleien verunstalteten sie.” Auch der Gottestempel zu Lichtenstein findet seinen Beifall, da er sich „durch eine edle und gefällige Simplizität sehr zu seinem Vorteile auszeichnet”. Ebenso finden wir jetzt seine Abneigung gegen das Gregorius-Fest der Schüler unbillig: „Mich wundert es, daß, da schon so viel über diese erniedrigende und oft kindische Gewohnheit gesagt worden, man es hier nicht längst abgeschafft hätte”. Was würde er wohl gesagt haben, wenn er um die Christzeit einmal der Engelschar hätte begegnen dürfen?

Die Bauart der Städte ist ihm sehr befremdlich. Allerdings mochten die schindelbedachten und wohl auch oft windschiefen Häuschen mit den stattlichen Zeilen der stolzen Pleißenstadt kontrastieren, entschieden aber wird diese bunte ergötzliche Unregelmäßigkeit bedeutend mehr malerisches Ansehen gehabt haben. Stollberg ist „sehr schlecht gebaut”, Ehrenfriedersdorfs Hütten haben den Ruhm | „klein und schlecht”, die von Geyer „nicht sonderlich gebaut” zu sein; die Bauart von Buchholz erhält das Prädikat „schlecht”, Neustädtel ist „schlecht und unbeträchtlich”. Lößnitz hat „rostige, alte Häuser”, „überhaupt ist die Bauart dort ganz elend und ungereimt”. Hartenstein ist „genau so elend”. Zwickau hat „Gebäude, ganz im alten Geschmacke gebaut, grau und rostig”. Auch Johanngeorgenstadt ist „nicht sonderlich gebaut, die Straßen sind krumm und höckrig”. Und da er an das dasige Rathaus gedenkt, entschlüpft ihm der Ausruf: „Welch elendes Quartier!”, wie er auch schon den Gasthof zu Schlettau „unter aller Kritik schlecht” gefunden hat. Nur in wenigen Städten giebt er seiner Befriedigung Ausdruck. So nennt er Annaberg einen der bestgebauten Mittelorte, da „die Gebäude meistens von gleicher Größe und reinlich abgeputzt sind, welches für das Auge einen weit besseren Anblick gewährt, als wenn große und kleine Gebäude, alte und neue so unordentlich wie die Reichsarmee unter einander stehen”. Schlettau gefällt ihm als „ziemlich gut und reinlich gebaut”, gleichwie auch Scheibenberg. Chemnitz hat „sehr gut gebaute Häuser”, ebenso wird Schwarzenberg mit der ersten Prämie bedacht, Schneeberg ist zwar „weit schlechter gebaut als Annaberg, jedoch findet man größere und schönere einzelne Häuser und unter diesen verschiedene, die Dresden und Leipzig Ehre machen würden”.

Diese durch den Zeitgeschmack geborenen und geformten Urteile ersticken jedoch den Gedanken nicht, der beim Lesen des Büchleins sich bildet, daß Ruhheim ein Lobredner unseres Gebirges ist, wenigstens gilt dies insoweit uneingeschränkt, als an die landschaftlichen Reize gedacht wird. Darum sei er mit genannt unter denen, die das Erzgebirge herausgehoben haben aus seiner Verkennung und Verachtung bei den Bewohnern des niederen Landes.

Hut ab! jetzt vor dem entschiedensten und begeistertsten Fürsprecher des Erzgebirges seiner Zeit, vor dem Pfarrer C. G. Wild. Im Jahre 1809 ließ Wild in Freiberg bei Craz und Gerlach ein Buch erscheinen, welches den Titel trägt: Interessante Wanderungen durch das Sächsische Obererzgebirge. Wild bekennt sich selbst als Erzgebirger und zeigt sich von seltener Heimatliebe durchglüht, die uns sofort für ihn gefangen nimmt. In einer herrlichen Rede zum Preise und zur Ehrenrettung unseres Gebirges unternimmt er es, ein farbenprächtiges Gemälde zu entwerfen, das einen wundersamen Zauber auszuüben imstande ist. Klar spricht er aus, was er will. Er meint, es existiere so manche Skizze von besonderen Gegenständen in unserm Gebirge, „doch diese Skizzen, ohne sie etwa zu tadeln, dürfen nicht unter diejenigen Schriften gezählt werden, welche mannigfachen Genuß gewähren, Interesse dafür und Verlangen nach den beschriebenen Gegenständen erwecken, noch weniger als Wegweiser angesehen werden können”. „Darum habe ich beschlossen, dich (Erzgebirge) und deine Schönheiten gefühlvollen Naturfreunden zu schildern … . Vielleicht gelingt es mir, manche lächerliche Meinungen und Sagen von dem obern Erzgebirge zu widerlegen und zu tilgen, die Unwissenheit in Rücksicht einiger Gegenstände desselben in genauere Kenntnis zu verwandeln und so Interesse und Beifall für dasselbe zu erwecken”. Mit Weh erfüllt es ihn, daß so viele nur Spott und Geringschätzung für unser Gebirge haben, „elendes Geschwätz ohne Scham und Scheu” führen und dabei „keinen Stein des oberen Erzgebirges gesehen” haben. Mit Entrüstung spricht er von denen, die solche „Wanderungen” zu Hause am Schreibpult gemacht haben, und meint damit wohl auch K. A. Engelhardt, der die D. J. Merkelsche Erdbeschreibung von Kursachsen neu bearbeitet 1804 herausgab und dabei selbst erzählt, daß er Fragebogen ausgesendet habe und aus dieser Korrespondenz heraus sein Werk habe entstehen lassen. Wild legt Verwahrung ein gegen diese Art von Naturschilderung und hebt, wie einst M. Chr. Lehmann, hervor, daß er das Gebirge durchwandert und das Erzählte selbst gesehen habe. Mit eindringlichen Worten ladet er ein, selbst zu kommen, zu schauen und dann mit eigenen und nicht geborgten Urteilen über das Gebirge zu reden. „Kommt ihr, die ihr unser Gebirge verachtet … ihr werdet euch beschämt sehen”. „Wer so die Gegend … durchwandert, wer alles dieses so erblickt, ich frage ihn, ob diese Gegend kann rauh genannt werden, ob sie uninteressant sei? Ich frage ihn, ob diese so verschrieene Gegend nicht die größte Aufmerksamkeit eines jeden Freundes und Forschers der Natur verdiene?” Und anderswo sagt er: „Nicht wahr, ihr Erzgebirger, ihr lebt in keinem Sibirien, wie Weichlinge euer Gebirge nennen?” Freilich „hege man nur jenen wissenschaftlichen Handwerkssinn nicht (welcher aus manchen Reisebeschreibungen hervorblickt), wenn man die Schönheiten der Natur betrachten will, die dann nur schön sind, wenn man mit reinen Gefühlen und nach keinem idealischen Maßstab sie betrachtet; wenn man die Natur kindlich ehrt”. Und freilich sei man nicht einer jener unechten Naturfreunde, die „nur immer auf | duftigem Blumenlager, umschattet von den goldbefruchteten Bäumen Italiens, von Nachtigallen zauberisch umflötet, am weichen Ufer des Silberkieselbaches zu ruhen wünschen”.

In der eingehendsten Weise wird nun unter Wilds Führung das Gebirge durchforscht, zunächst auf kleinen Wanderungen von Johanngeorgenstadt aus in dessen allernächste Nähe, wie auch in die weitere Umgebung. Verlockend ist z. B. die Schilderung des Ausfluges nach dem Schneiderfels, oder die nach dem Teufelssteine (Glückauf 1894 S. 102). Wildenthal, Eibenstock, der Auersberg, die Gegend um Bockau werden besucht, und überall müssen wir unserm kundigen Wild das Lob zollen, daß er uns gut und „amüsant” geführt hat, denn er lernt uns das Auge schärfen für so manches unbeachtet am Wege liegende Schöne. Schneeberg ist der Ausgangspunkt zu weiteren Partien, die nach dem Gleesberge, dem Hammergute, der Eisenburg bei Wildbach (Isenburg), nach der Prinzenhöhle und Stein, nach Aue, nach dem Filzteiche, nach Weißbach hin unternommen werden. Was uns auch wohlthut, ist, daß er neben einer großen Liebe für die Reize der Natur ein Herz und trauliche Zuneigung für die „zufriedenen” Bewohner hat, die er oft seine braven Landsleute nennt. Als Anhang giebt er noch eine recht anschauliche Schilderung von verschiedenen Festen und Gebräuchen im Erzgebirge. Er schildert ein Bergfest, kommt auf die sinnige Feier des Weihnachtsfestes und bespricht auch weiter das Hutzengehen, die Gebräuche am Aschermittwoch, am Walpurgisabende und anderes. Bemerkenswert sind die Ausführungen über das Vogelstellen, das er ausführlich beschreibt und wobei er gesteht, daß er oft selbst mit auf dem Vogelheerde gewesen und manches Vergnügen mit den „schreienden und flatternden Gefangenen” gehabt habe. Am Ende bringt Wild, der ein klares und inniges Verständnis für unsere heimatliche Muttersprache zeigt — hat er uns doch selbst mit so manchen reizenden Dialektdichtungen beschenkt, von denen sein liebliches Wiegenlied am bekanntesten ist —, auch eine Probe der gebirgischen Sprechweise, indem er ein Gespräch zweier Bergleute wiedergiebt.

Recht interessant ist die Mitteilung, die er uns über die damals eben verbotenen Weihnachtsspiele (Glückauf 1895 S. 2) macht, so interessant, daß wir es uns hier noch einmal von ihm erzählen lassen, was er davon weiß.

„Sonst war auch das sogenannte heilige Christspiel gebräuchlich, wo Bergleute und andere gemeine Leute in schön gereimten, burlesken Versen die Geburt Jesu als ein | Lustspiel aufführten und so von Haus zu Haus zogen. Dabei war immer eine lustige Person, welche allerhand Possen trieb, z. B. dem König Herodes, welcher frisiert, mit goldenem Zepter und Reichsapfel auf einem hölzernen Stuhle saß, Schnupftabak unter die Nase rieb, daß er niesen mußte. Joseph wurde als hektisch vorgestellt und hatte eine Säge in der Hand; Maria sprach oft im schönsten Kontrabaß, denn Frauenzimmer waren bei dieser Truppe nicht; die Engel gingen in langen Hemden, mit vielen Bändern geschmückt und gepudert, und hielten mit einem seidenen Tuche große Husarensäbel in der Hand; die Hirten hatten hohe, spitzige Hüte von Zuckerpapier auf und knallten entsetzlich mit den Peitschen, auch bliesen sie auf Nachtwächterhörnern; der Stern war von Pappe und ölgetränktem Papier an einer Stange aufgesteckt und konnte gedreht werden; manchmal brannte er, denn inwendig stak einbrennendes Licht, auch an; das Christkind endlich war nicht himmlischer Abkunft, es sah erbärmlich aus und ward oft sehr übel behandelt. Übrigens war immer ein Knecht Ruprecht dabei, welchen man im Gebirge Rupperich nennt; wie gewöhnlich war er in einem Schafpelz vermummt, mit einer Klingel und einer Ofengabel versehen und mußte die nachlaufenden Jungen zurückschrecken. — Am sogenannten heiligen Dreikönigsfeste erschienen dabei gar diese drei Majestäten, wobei eine schwarze war. Doch seit mehreren Jahren hat dieser Unfug aufgehört, welcher eigentlich noch ein Überbleibsel des in Sachsen ehedem herrschenden Aberglaubens war. So wurde vor wenig Jahren in einer dort benachbarten böhmischen Stadt das Leiden und der Tod Jesu auf diese Weise aufgeführt, wo den Heiland ein starker Fleischer repräsentierte, welcher einmal, als er am Kreuze hing und von dem Lanzenknecht in die Seite gestochen wurde, mit starker Stimme vom Kreuze hernieder rief: „Hannes, stiech net su darb, sust stiechst de mr halter ja de Laber guttengar durch!”

Es ist bedauerlich, daß uns Wild weitere „Wanderungen”, die er uns versprochen, nicht hat geben können; zu unseren Schätzen zählten sie wahrlich.

Wilds Versuch, die weitverbreiteten Vorurteile zu verscheuchen, war kräftig, leider jedoch noch ziemlich wirkungslos, da er vorläufig fast der einzige blieb. Erst nach mehreren Jahrzehnten, vor ungefähr 50 Jahren, sind wieder mehrere Vorstöße dieser Art wahrzunehmen. Es erschienen in dieser Zeit drei in ihrer Art recht interessante Reiseschilderungen, die auch alle drei den vollständig richtigen und daher nicht genug zu empfehlenden | Gedanken zur Durchführung brachten, daß das Bild, weil es eindringlicher predige als das Wort, ein ganz notwendiger Faktor sei zur Erzielung lebhaften Interesses.

Im Jahre 1840 erschienen in Grimma (Verlags-Comptoir) „Wanderungen durch das sächsische Erzgebirge. Ein Wegweiser etc.” Der Verfasser nennt sich nicht, doch wird von M. von Süßmilch-Hörnig Dr. Ferd. Philippi als solcher vermutet. Es wollen diese „Wanderungen” nicht eine umfassende und bis ins Kleinste hinein vollständige Beschreibung