Eine dreitägige Wanderung ins böhmische Mittelgebirge

Geschildert von Hermann Löscher (Zwönitz).

Schon etliche Wochen vor dem „lieblichen Feste” planten eine Anzahl Mitglieder des Zwönitzer Erzgebirgsvereins, zugleich Mitglieder der dortigen Ortsgruppe des allgemeinen deutschen Schulvereins zur Erhaltung des Deutschtums im Auslande, eine Pfingstfahrt nach dem böhmischen Mittelgebirge. Was uns dahin trieb, war zweierlei. Wir wollten einerseits die Hügellande jenseits unseres Erzgebirges, die wir so oft von den Höhen der Heimat in weiter Ferne geschaut, kennen lernen und dabei unser Gebirge einmal in der ganzen Mächtigkeit seines Kammes von jenen Höhenpunkten aus beschauen, andererseits wollten wir in kühnem Wagemute bis in jene Gegenden vordringen, die den für uns so schmerzlichen Namen „Sprachgrenze” führen, ja vielleicht auf czechischen Boden selbst den Fuß setzen.

Da uns nur drei Tage zur Verfügung standen, mußte die Zeit ausgekauft werden. Und so stand Mittwoch, den 5. Juni, früh ½3 Uhr auf dem Markt des Städtleins ein Omnibus, der die 7 fahrenden Gesellen aufnahm, um sie rechtzeitig nach Annaberg zu bringen. Es war ein kalter, nicht ganz klarer Morgen. Trotzdem bereute es der Berichterstatter nicht, den Sitz auf dem Kutscherbock eingenommen zu haben, denn es bot sich die sonst so selten wahrgenommene Gelegenheit im Geyerschen Walde dem Erwachen der Natur zu lauschen. Zehn Minuten vor 6 Uhr bestiegen wir in Annaberg den Zug nach Weipert. Wir hatten uns auf diese Fahrt mit ihrem Tanz um den Bärenstein gefreut. Aber der hohe Herr verhüllte sein noch verschlafenes Angesicht in ein wolliges Wolkenbett, aus dem nur der Fuß hervorlugte. So sagten wir denn dem Heimatlande ade, um über den Pöhlbach hinüber ins Böhmische zu fahren. In Weipert war mehrstündiger Aufenthalt. Wir benutzten ihn zu einer Morgenwanderung durch die Stadt. Wir bewunderten das schöne, noch nicht lange errichtete Standbild des Kaisers Josef II. und gingen dann in die Kirche, um einem katholischen Abendmahlgottesdienst beizuwohnen. Nachdem wir uns an einem köstlichen Glase Ruster Ausbruch in Fitbogen’s Weinstube erfrischt, dampften wir ab, um nach Komotau zu gelangen. Mühsam windet sich der Zug erst auf den Kamm hinauf, um dann in ebensogroßen Windungen hinabzufahren. Der Haßberg und der Spitzberg waren gnädiger als der Bärenstein, und zeigten sich. Ja stellenweise brach die Sonne siegreich durch und ließ uns köstliche Blicke in das großartige Assigbachthal thun. In Krima-Neudorf, wo die Reitzenhainer Strecke mündet, erkälteten wir den verdursteten Magen mit eiskaltem Bier, wie wir es ähnlich nur noch in Komotau gereicht bekamen, wo wir ½1 Uhr mittag ankamen. Es war gerade Zeit einen Imbiß einzunehmen, denn wenige Minuten nach 1 Uhr ging der Zug nach Dux ab, das wir in reichlich einer Stunde erreichten. Unterwegs hatten wir Gelegenheit eine Probe czechischen Volksgesanges zu hören. In Komotau war Nachmusterung gewesen, und die Ausgehobenen erfüllten den Nebenwagen nicht nur persönlich, sondern auch stimmlich. Kenner rühmen uns an diesem Gesang sonst „anmutige, ins Gehör fallende, schwermütige Weisen”. Den Umständen angemessen trat hier von allem das Gegenteil auf. So verschlossen wir unser deutsches Ohr, um desto mehr das Auge zu öffnen; denn immer deutlicher erhoben sich vor uns die Basaltkegel des Mittelgebirges, im Vordergrund der mächtige Klingsteinfelsen des Borschen. ½3 Uhr begann in Dux die Fußwanderung. Es galt zunächst Bilin zu erreichen. Im Kohlendampf und Kohlenstaub lag die ganze Strecke vor uns. Wir wanderten nicht die gerade Strecke, sondern hielten uns etwas links, daß wir über Kutterwitz in die Stadt gelangten. Wir hatten dadurch Gelegenheit, an zwei mächtigen Braunkohlenwerken vorüberzukommen, in denen die Kohlen im Tagebau gewonnen werden. Man sieht die mächtigen Flötze sich unmittelbar unter einer dünnen Lehmschicht dahinziehen. Mit welcher Leichtigkeit wird hier abgebaut, wo die ganzen Maschinenarbeiten und Schutzmaßregeln des Tiefbaues überflüssig werden. 1 Eines dieser Werke gehörte der Hartmannschen Aktiengesellschaft in Chemnitz. Wenige Tage zuvor hatte man in einem ähnlichen Werke in Ladowitz, das wir ebenfalls berührt, bei den Abgrabungsarbeiten einen versteinerten Eichenstamm von 160 Zentner Schwere gefunden.

Wir näherten uns dem Borschen immer mehr und bogen, als wir die uralte Stadt Bilin erreicht, noch vor dem „weithin sichtbaren, fensterreichen” fürstlich Lobkowitz’schen Schloß links die Straße nach Rádowesitz ab. Unser Plan war: durch das Deberschkenbachthal den sogenannten Fürstensteig zu wandern, wie der von uns benutzte neueste „Nordböhmische Touristenführer von Dr. F. Hantschel 2 angab. Da aber kein Wegweiser uns dorthin wies und mündliche Auskunft uns auf die Straße geführt hatte, so haben wir diese4n angeblich „reizenden Thalgrund” nicht zu sehen bekommen. Vielleicht treffen andere die Sache besser.

Nach einer Wanderung von 1¼ Stunde, währenddessen hinter dem Borschen und im Launer Gebiet das Wetter grollte, kamen wir nach dem alten freundlichen Pfarrdorfe Radowesitz, das einen sehr behäbigen Eindruck machte. Wir kehrten hungrig und durstig im ersten Gasthof ein, fanden aber später beim Weiterwandern, daß der zweite Gasthof (Gutsch) mit einer Auskunftsstelle des Teplitzer Gebirgs-Vereins wohl empfehlenswerter gewesen wäre. Nun führte der Weg durch Hettau<, das schon ziemlich hoch liegt. Nicht weit hinter dem Dorfe zeigte ein Wegweiser nach der „schönen Aussicht”, deren Holzbau wir schon von weitem hatten leuchten sehen. Der Aufstieg ist ziemlich steil. Der Höhenzug gehört schon zu der mächtigen Radelsteingruppe, die wir eigentlich an diesem Abende noch bezwingen wollten. Unser Weg sollte gemäß Angabe des Führers über den Steinberg nach dem Radelstein gehen, um von da nach Mukow hinabzuführen. Da uns aber der Weg als zu weit für den Abend und die Aussicht als vielfach durch Baumwuchs behindert geschildert wurde, ließen wir es bei dem Punkte der „schönen Aussicht” bewenden, die uns noch einmal die am selben Tage zurückgelegten Strecken überschauen ließ und einen schönen Überblick nach der Teplitzer Gegend, Ruine Kostenblatt und Milleschauergebiet bot. Von der „schönen Aussicht” führte der Weg noch ein Stück bergan und als wir an die Wasserscheide kamen, merkten wir, daß dort das Gewitter mächtig aufgetroffen war. Das abstürzende Wasser hatte die Wege aufgerissen und die an sich schon feuchten Hochwiesen noch feuchter gemacht. Nachdem wir so unfreiwillig Kneipp’sche Kur in Stiefeln gemacht, trafen wir oben einen hütenden Eingeborenen, der uns den nächsten Weg nach Mukow, dem gesetzten Endziel unseres Tagewerkes, wies. Freilich fügte er hinzu, dort würden wir wohl kaum übernachten können. Es gäbe zwei Schenken, aber auf Fremdenverkehr seien sie nicht eingerichtet. Er empfahl uns Rasitz; da das aber gerade unserer Wanderung entgegen lag, beschlossen wir einmütig, einen Sturm auf Mukow zu wagen. Und es gelang. Grüßte uns schon die saubere und für das kleine Dorf (50 Häuser) sehr stattliche Kirche freundlich beim Nahen, so fanden wir auch alsbald am Kirchplatze das Hauptvogel’sche Gasthaus, an dem eine Steintafel mit Goldschrift kündete, daß hier am 15. Oktober 1778 Joseph II. übernachtet habe. Wenn solche hohe Herren hier ihr Haupt zur Ruhe gelegt, dann nehmen wir auch fürlieb, hieß es, und so überschritten wir die Schwelle. Es dauerte eine Weile, bis die vielbeschäftigte Wirtin zur Stelle war. Sie machte uns keine großen Versprechungen; aus allem aber merkten wir, daß sie thun würde, was in ihren Kräften stand. Wir wurden eins, daß sie im Gastzimmer oder in der jenseits der Hausflur liegenden, als Tanzsaal dienenden großen Stube uns eine Strohschütte herrichten sollte. Nachdem wir der Wanderung Staub abgespült, setzten wir uns in das Gastzimmer, labten uns an Biliner Bier und stimmten aus Freude über den gelungenen 1. Tag ein vierstimmiges Lied an. „Brüder reicht die Hand zum Bunde!” klang es einladend hinaus in die Abendstille. Und gar bald that sich die Thüre auf, und der Herr Lehrer des Ortes trat mit herzlichem Gruße ein. „Das treue deutsche Herz” und andere deutsche Klänge lockten bald noch andere Herrn herbei; unter anderen begrüßte uns der Vorsitzende des Gebirgsvereines zu Mukow. Alle Achtung! Wenn wir es im Erzgebirge erst so weit gebracht hätten, daß derartige kleine Ortschaften Zweigvereine für unsere Sache erhielten, dann stände es gut! Bei uns thun aber sogar alte, reiche und große Städte wie Freiberg nicht mit. Die Gebirgsvereine haben dort auch mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Man erzählte uns, daß die Herrschaft (der Adel Böhmens zeichnet sich zum Teil in jeder Beziehung unliebsam aus) keine Wegezeichnung an den Bäumen wünsche. Jeder farbige Strich wird alsbald überteert. Nun, dann gelten eben Teerstriche als Wegweiser! — Die Unterhaltung war bald in bestem Gange. Der Lehrer, der dicht an Sachsens Grenze gesessen, kannte Sachsen und Böhmen gleich gut, und gab uns alle nur gewünschte Auskunft. Besonders bewunderten wir seine und der Anwesenden reiche geologische Kenntnisse. Auch die nationalen Verhältnisse wurden gestreift, und mit Stolz bekannten die Herren, in einem rein deutschen Dorfe zu wohnen. Es wurde Mitternacht. Immer noch wurde ein Lied gesungen, und das bekannte letzte Glas getrunken. Da meldete der Wirt: das Faß ist leer! Nun suchten wir unsere Streu auf, nachdem wir aus dem Munde des Lehrers noch die freundliche Zusage erhalten, daß er uns am nächsten Morgen 6 Uhr nach dem spitzen Wostrai selbst führen wollte. Die Wirtin hatte die Lager, so gut es anging, mit Tüchern und Betten ausgestattet und bald ward es stille im Tanzsaale. Um 5 Uhr des anderen Tages ward aufgestanden. Die Wirtin bereitete den Kaffee, unser Beutelverwalter übernahm den Ausgleich der ganzen Zeche (es kam auf den Mann für Übernachten, Abendbrot: Eier, Butter, Brot und Käse, — Kaffee mit Brot: 47½ Kreuzer). Da stellte sich auch schon unser liebenswürdiger Führer ein, und in herrlicher Morgenfrische gings hinaus nach einem herzlichen: Behüt‘ Gott und auf Wiedersehen! an die freundlichen Wirtsleute. Wir kamen an dem altem Prokopibrunnen vorbei, zu dem früher viel gewallfahrtet worden war, daher die große Ortskirche, — und dann wies ein Wegweiser hinüber nach dem Wald. Der Weg ist ohne kundigen Führer nicht leicht zu finden. So aber waren wir in einer halben Stunde auf dem spitzen Wostrai (171 m) angekommen. Die Aussicht war herrlich. Zwar waren die weitentfernten Höhenzüge etwas in Nebel gehüllt. Das Mittelgebirge aber und das Erzgebirge lag um so schöner vor uns. Nur der um 33 m höhere Radelstein deckt die Aussicht nach der Teplitzer Gegend, sonst aber hat man einen köstlichen Blick von diesem grotesk geformten Basaltkegel, von dem Hantschel sagt: „er ist der höchste Berg dieser Gegend und gleichsam der Schlußstein des gesamten Mittelgebirges im Südwesten, mit einem herrlichen, fast überwältigenden Überblick über dasselbe, sowie übers Egerthal bei Laun”. Doch weiter gings der Fahrt. Unser werter Wegzeiger wandte sich heim, um seine Kinder in den Wissenschaften zu fördern, und unser herzlichster Dank begleitete ihn. Wir wendeten uns östlich, durchschritten die kleinen Ortschaften Drewce und Skalitz. Vor letzterer Ortschaft kreuzten wir zum ersten Male den Modelbach, der am Radelstein entspringt, gingen am Netluker Forsthause vorbei und kamen auf einem uns in Skalitz gewiesenen Wiesenwege bald in die Nähe von Diakowa. Vorher aber bogen wir nach Westen ab, um die steile Basaltklippe mit der Ruine Hradek zu ersteigen. An die Bäume geknüpfte Strohseile zeigen den Aufstieg. Die Anstrengungen lohnt der Ausblick reichlich. Sieht man doch von hier aus allein 15 Burgruinen. Und wie groß ist die Zahl der oft genau pyramidenförmig sich erhebenden Basaltkegel, die rings aus der Ebene emportauchen. Die Burg selbst ist nicht groß gewesen. Gewiß ein richtiges Raubnest. Man trifft zuerst noch auf die Überbleibsel des starken, an einen mächtigen Basaltblock angelehnten Thorturmes und von da steil aufwärts die Gemäuer der eigentlichen Burg. Sie hat nie eine große Rolle gespielt. erst in den Hussitenkriegen wird sie genannt, und 1612 ist sie bereits verödet. 3 Woltarschik, so ist der frühere Burgname, ist nicht zerstört worden, sondern wurde von den Besitzern verlassen. Die alten starken Basaltmauern aber werden noch manch Jahrhundert ins Land hinausschauen und Wanderer anlocken, die dort die herrliche und eigenartige Aussicht genießen.

Schneller als wir heraufgeklettert, gings thalwärts, und bald war das freundliche, im hellen Sonnenglanze liegende Diakowa erreicht. Das Dörfchen hat kein Wirtshaus. Aber gleich links am Eingange bot uns ein schmuck vorgerichtetes Häuschen freundliche Unterkunft, und ein Trunk gute Milch mit einem Imbiß schwarzen Brotes mundete vortrefflich. Auch hier waren die Leute von einnehmender Liebenswürdigkeit. Die jungverheiratete Frau ließ es sich nicht nehmen, die Milch in ihren neuen gemalten Porzellan-„Häferln” auf ebensolchen Tellern zu reichen. Der nächste Ort, nach dem wir uns weisen ließen, war Chrasnai. Hier winkte aus Nordosten der wie ein großes Ausrufezeichen emporragende, 19 m hohe und mit 4 m dicken Mauern versehene Turm der Ruine Skalken, die man von Watislaw aus leicht erreicht; wir zogen aber vor, uns diese kleinere Erhebung von unten aus anzusehen, da im Südosten uns die großartige Ruine Kostial mächtig lockte. So gingen wir geraden Wegs nach Teplai. Dort tranken wir von der 1710 entdeckten eisenhaltigen Quelle, über die eine Wallfahrtkapellr erbaut ist, wandten uns links über die Brücke und begannen im Sonnenbrand den Aufstieg. Aber — böse Beispiele verderben gute Sitten — unser Vordermann meinte: wozu auf geebneten Wegen sich um den Berg herum schlängeln? — und versuchte die Burg durch geradlinigen Aufstieg zu erstürmen, und die andern folgten. Es gelang, aber zur Warnung sei’s hier hergesetzt: jeder Tropfen Schweiß war eine Anklage unseres Ungestüms. Ermattet lagerten wir uns erst eine Zeit lang am Fuße der Burg, und erst, als das Herz wieder ruhiger schlug, stiegen wir hinan zu den Trümmern von Kostial (488 m). Die Sage erzählt, daß Koschal, der eine Verwandte Libussas zur Frau hatte, 747 die Burg erbaut habe. Geschichtlich ist, daß sie später eine königliche Burg war und es blieb bis in die Zeiten der Hussitenkriege, in denen sie 1422 vergeblich belagert wurde. Die Burg war in diesen Zeiten von königlichen Burggrafen bewohnt. Von einem solchen: Burggraf Albrecht von Slawietin erzählt die Sage, 4 daß einst bei einem heftigen Gewitter der Blitz ihm und seiner Gemahlin in die langen, aufwärts gebogenen und wohl mit Metall versehenen Spitzen der Schuhe gefahren sei, ohne sonstigen Leibesschaden zu bewirken. Die Beiden waren durch diesen Blitzschlag aber so erschreckt, daß sie sich von Stund‘ an weigerten, die Burg ferner zu bewohnen. —

Später kam sie in den Besitz derer von Sulewitz. Wegen der unbequemen Lage wurde die Veste verlassen und verfiel. Am Wege hinauf trifft man noch Reste der alten Ringmauern, ebensolche oben um den Burghof. Von den Gebäuden ist die Krönung des höchsten Gipfel noch leidlich erhalten, so daß man die Überreste weithin ins Land leuchten sieht. Die Aussicht ist wiederum äußerst lohnend. Nach Norden und Westen breitet sich das Mittelgebirge aus, und abermals grüßt der Riese Milleschauer mit seinen freundlichen Gebäuden herüber. Wir schauen im Osten dann das Elbthal und können den blauen, im Sonnenlicht glitzernden Fluß-Streifen in mannigfachen Windungen vor Lobositz verfolgen. Im Hintergrund tauchen der Bösig (bei Hirschberg) und der Jeschken auf. Im Süden hebt sich aus der weiten Ebene die Hasenburg heraus, und links davor der Georgsberg bei Raudnitz, dessen weißleuchtende Kapelle weithin sichtbar ist. So wechseln Gebirge und Ebene eigenartig ab und geben dem ganzen Landschaftsbilde einen besonderen Reiz, der jedem Empfänglichen unvergeßlich bleibt. Wie thut ein solcher Blick in dies gesegnete Böhmerland wohl! Ist’s nicht ein großer Garten, der sich da zu unseren Füßen hinstreckt? Obstbaum an Obstbaum, selbst die Felder und Wiesen sind mit unzähligen Reihen von Fruchtbäumen bepflanzt. Und was für ein Getreide wuchs selbst unter dem Gezweige der Bäume noch. Wir maßen willkürlich gepflückte Ähren und fanden, daß 2¼ Meter kaum reichten. Und das in den ersten Tagen des Juni! Und wie saftig und kraftstrotzend die Wiesen! Selbst an den Wegrändern wuchs mehr und besseres Futter, als bei uns auf den gepflegtesten Wiesen. Und dies Land, dies friedlich zu unsern Füßen im Sonnenschimmer liegende Land, ist Kampfgebiet! denn hier singt der Deutschböhme:

Wie der Wellen Geschwätz im blumigen Bache,
So klingt mir die freundliche Muttersprache.
Sie mahnt an den Frühling des Lebens so mild
Und wecket im Herzen sein freundliches Bild.
Drum hör‘ ich gar gerne ihr trauliches Wort,
Es mahnet so sanft an den heimischen Ort. 5

Und der Czeche singt in seinem Liede: Kde domow muj, kde vlast je mà?:

Wo ist mein Haus,
Wo ist mein Heim?
Wasser rieselt über Wiesen,
Bächlein schäumt von Felsenriesen,
Gärten stehn in Frühlingsblüten,
’s ist ein Paradies hinieden –
Und das ist das schöne Land,
Böhmerland, mein Heimatland! 6

Wir sollten gar bald eine Stätte heißen Streites betreten. Nachdem wir von Kostial Abschied genommen, stiegen wir hinab in das zu seinen Füßen liegende Städtchen Trebnitz, nachdem wir zuvor in der Weinkellerei des Grafen Karl Schönborn eine Flasche guten, aber für Böhmen auch sehr teuern Wein getrunken hatten. Trebnitz ist eine uralte Stadt. Hantschel berichtet darüber, daß es schon 1299 die ersten Privilegien erhielt. Es ist Geburtsort des berühmten Kgl. sächs. Hofbildhauers Franz Johann Pettrich, geb. den 29. August 1770, der als Professor der Kunstakademie 1844 in Dresden starb. Er widmete seiner Vaterstadt ein sehr schönes Kruzifix für die Friedhofkapelle.

Sobald man an die ersten Häuser kommt, merkt man: hier befindet man sich an der Sprachgrenze. Die Aufschriften über den Läden sind entweder czechisch oder deutsch, selten gemischtsprachig. Den uns begegnenden Czechen sah man am finsteren oder höhnischen Blick ihre Neigung zum Nemec, d. h. Deutschen an (wie Ohorn a. a. O. sagt: „eigentl. „Stummer”, denn einer czechischen Suada gegenüber muß der Deutsche verstummen”). Bei unserm nachmittaglichen Ausflug mußten wir uns auch noch andere Bezeugungen des czechischen Unwillens über unsere deutsche Einwanderung gefallen lassen. Da sie aber hinter unserem Rücken geschahen, beachteten wir sie nicht. Es ist der Ärger der Herren Czechen auch sehr begreiflich. Trebnitz hat ungefähr 1500 Einwohner, 900 Czechen und 600 Deutsche. Bis Ende der sechziger Jahre war die Stadt noch eine deutsche. Dann kam die Cholera-Epidemie 1866, raffte viele der besten Deutschen hinweg, auch den Gemeindearzt Dr. Mann. An seine Stelle kam ein ausgesprochener Czechisierer Dr. Parzick. Er machte eine Gründung nach der andern, czechische Schule (nur zwei Klassen blieben deutsch), Beseda (Vereinshaus), Zalosna (Vorschußkasse), Sokol (Turnverein) u. s. w. und wußte die Unentschiedenheit der Deutschen sehr gut in den Dienst dieser deutschfeindlichen Sache zu stellen. 1888 krönte er sein Werk, indem er sich zum Bürgermeister wählen ließ. Nun wurde die Amtssprache czechisch, und sein Druck ging so weit, daß die Ergebnisse der Volkszählung zu Gunsten der Czechen gepreßt wurden. Nun war Trebnitz czechische Stadt, denn Rat, Schule, Kirche (der 1878 gestorbene deutsche Dechant wurde durch einen eifernden Czechen ersetzt) waren in czechischen Händen. Damit war das Modelthal und ein Teil des Nordens Böhmens verloren. Da mit einem Male — „welch‘ eine Wendung durch Gottes Fügung!” — (1889) kommt ein junger Arzt Dr. Josef Titta nach Trebnitz. Schon auf der Universität hat er sich mit den deutschen Kämpfen gegen sie Slaven bekannt gemacht. Er bringt alles mit, was man von einem Retter in der Not verlangen kann, ein feuriges Herz und deutsches Wissen, begeisterte Liebe zu seinem Volke, Zähigkeit im Erringen und Festhalten des Zieles, dabei ruhige Überlegtheit und gewinnende Schlichtheit. Schritt für Schritt errang er Boden zurück. Es ist hier nicht der Platz, um alle Maßnahmen zu schildern, die er zum Wohle seiner Landsleute durchsetzte. Man lese, was darüber der Kenner dieser Verhältnisse, Karl Pröll in seinem Aufsatz „ein deutsches Numantia in Böhmen” (in „Unsere Vorposten”, Verlag der Dresdener Ortsgruppe des allgem. deutschen Schulvereins) geschrieben hat. Sein Hauptwerk ist die Gründung des Vereins Germania, der in der ganzen Welt Mitglieder zählt, darunter auch zwei sächsische Minister. Alle Errungenschaften: der deutsche Kindergarten, die Spar- und Vorschußkasse, der Turnverein, das Wiederaufblühen der deutschen Schule, und zuletzt die Erwerbung eines „deutschen Hauses”, das als fester Stützpunkt alle Deutschgesinnten einen sollte, sind der Germania und ihrem Leiter zu danken.

Kurz vor 1 Uhr mittag zogen wir im „Deutschen Hause” ein. Unsere Zimmer waren bereits vorgerichtet, denn wir hatten uns postkärtlich angemeldet. Dr. Titta hatte jede gewünschte Auskunft uns im Voraus schon zukommen lassen. Das gemütliche Gastzimmer, sauber und heimisch, geziert mit den Bildern deutscher Männer, die sich im Kampfe besonders verdient gemacht haben, macht einen wohlthuenden Eindruck. Nach einem schmackhaften Mittagsmahl wurde gelesen — es standen zahlreiche Zeitungen, Zeitschriften und auch touristische Werke zur Verfügung, — oder auch ausgeruht, bez. gebadet. Da es sehr heiß war, brach man erst nach 5 Uhr zum Nachmittagsausflug auf. Er führte uns in reinczechische Gegenden: etwaige Auskunft wurde uns stets mit derselben Antwort „nerozumim” (ich verstehe nicht) verweigert.

(Schluß folgt.)

Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 15. Jg. Nr. 8, v. August 1895, S. 105 – 109.
  1. Freilich ists auch ein ganz unverantwortlicher Raubbau, den man treibt. Die Brüxer Ereignisse der letzten Tage hängen damit wohl unzweifelhaft zusammen. ↩︎
  2. Besprochen in der Juni-Nummer des diesjährigen Glückauf S. 22. Das Buch hat sich als vorzüglicher Ratgeber erwiesen und ist jedem Wanderer, der Nordböhmen besucht, zu empfehlen. ↩︎
  3. Heber, Böhmens Burgen Bd. 4, 237, wo auch über die nachgenannten Ruinen zu finden ist. ↩︎
  4. Sie wird neuerdings erzählt in dem wirklich empfehlenswerten Buche: Ein deutsches Buch aus Böhmen, von A. Pandler, mit Originalzeichnungen von O. Pfennigwerth (Seminaroberlehrer in Dresden), 3 Bände. 1895 in Leipa (III, S. 4). ↩︎
  5. Diese Verse sind von dem böhmischen „Röder”, Schulrat und Stadtdechant A Jarisch (Komotau), der diese Worte als Vorrede zu seiner Sammlung mundartlicher Lieder „Heimatklänge” vorausschickt. ↩︎
  6. Übersetzt von Anton Ohorn in „Wanderungen in Böhmen”, S. 5 ↩︎