Der stärkste Nadelholzbaum Deutschlands

Für alle Diejenigen, welche die so reizende Umgebung Olbernhau’s besuchen, ist es gewiß nicht ohne Interesse zu erfahren, daß in dem dortigen Staatsforstrevier der stärkste Nadelholzbaum Deutschland’s steht. Eine alte Riesentanne (Abies pectinata, De Candolle), die Königstanne genannt, die ein Alter von ohngefähr 500 Jahren haben mag, steht in der Abteilung 33 des gedachten Reviers, von Olbernhau in südwestlicher Richtung 3,5 km, von Grünthal in westlicher Richtung 5,0 km entfernt. Die Umgebung der Tanne bilden ohngefähr 70 Jahre alte Buchen, über welche sie circa 30 m emporragt. In ihrer äußersten Krone, dem Zopf oder der Spitze, macht sich das hohe Alter geltend; dieselbe ist seit ohngefähr 8 bis 10 Jahren in einer Länge von 4 bis 5 m dürr geworden, während der untere Kronenteil frisch und gesund ist. Sie hat 1,4 m über dem Boden gemessen, einen Durchmesser von 2,10 m und eine Scheitelhöhe (d. h. bis zur äußersten Spitze) von 47,4 m. Der Masseninhalt berechnet sich zu 57,44 Festmeter Schaftholz und 14,36 Festmeter Ast- und Reisigmasse in Summa 71,80 Festmeter.

Bei der Betrachtung dieses alten ehrwürdigen Baumes empfindet man so recht tief die Kürze des menschlichen Lebens; wie viele Geschlechter sind vorüber gegangen, seitdem diese Tanne stolz und in voller Kraft dastand.

Zur Zeit des Hussitenkrieges war sie schon ein Baum von 50jährigem Alter, und im dreißigjährigem Kriege, als die aus Böhmen vertriebenen Protestanten Schutz in ihrer Nähe suchten, war sie schon ein alter Baum von mehr als 200 Jahren. Aber diese Betrachtung läßt auch recht klar die Nichtigkeit alles Irdischen erkennen; die Zufuhr der Lebenssäfte nach ihrem Kopfe hat nach 500 Jahren nachgelassen, es geht ihr wie einem alten Manne, dessen Kopf kahl und leer wird, während der Bauch anschwillt; nicht viele Jahrzehnte mehr wird es währen und der Tod ereilt auch sie. Die Forstverwaltung wird, so lange die alte Tanne Leben zeigt nicht Hand an sie legen; es wäre gradezu ein Verbrechen, wenn ein solcher Baum einiger schnöder Geldmünzen halber unter den grausamen Händen der Holzhauer sterben und ihr Leib unter den noch grausameren Instrumenten der Schneidemühlen zerkleinert werden sollte.

Forstmeister Schaal.

Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 1. Jg. Nr. 9 v. 15. September 1881, S. 86 – 87