Aus dem Auer Thale

Wenn man vom Schützenhause zu Aue, das eine prächtige Aussicht auf das ganze schöne Auer Thal bietet, den Blick nach Nordwesten richtet, so gewahrt man am untersten Ende des Thales einen Turm. Das ist der Turm der Kirche zu Klösterlein-Zelle, und auf diese Kirche gestattet sich Einsender die Aufmerksamkeit der Leser zu lenken. Sie ist keineswegs ein monumentales Gebäude, sondern nur eine einfache Dorfkirche. Aber sie steht Hunderten ihrer Schwestern in Ehrwürdigkeit durch ihr hohes Alter voran; denn sie ist wohl im ganzen Erzgebirge die älteste christliche Kirche. Sie war ursprünglich Klosterkirche und steht noch, wenn sie auch selbstverständlich im Laufe der Jahrhunderte mehrfache Reparaturen erfahren hat, als dasselbe Gebäude da seit ihrer Gründung, demnach seit dem Jahre 1173, in welchem Jahre, den 7. Mai, der Markgraf von Meißen, Otto der Reiche, welcher bekanntlich vorher (1162) das Kloster Altzella bei Nossen gegründet hatte, das Augustinerkloster zu Zelle stiftete. — Zur Geschichte des Klosters, die natürlich zugleich die Geschichte der Kirche ist, sei noch Folgendes hervorgehoben. In einem Dokumente vom Abt Johannes Tylich des Augustinerklosters St. Mauricii zu Naumburg, übersetzt in damaliges Deutsch, heißt es über die Gründung unseres Klosters: „— vnder andern sachen wolde her (der Markgraf) bawen eyn closter der regeler orden alze seyn vater gethan hatte mit seynen brudern Dedo grauen zav Rochlitz dy kyrche unser lieben frauen vff dem vfer des wassers der milde wey lißnitz (Lößnitz) daß man die ouwe des klosters (owa claustri) heutte nennet hot er gebawet u. s. w.“ — Als Mitstifter des Klosters werden noch genannt Meinherr von Werben und Dedo von Mynime, und es wurde die Stiftung vom Kaiser Friedrich Barbarossa bestätigt. Die betreffende Urkunde war in Goslar ausgestellt. Das Kloster wurde der Gerichtsbarkeit des Bischofs zu Naumburg (damals Neunburg) unterstellt. In einer Urkunde vom Jahre 1396 wird es Clostirle genannt, woraus jedenfalls Klösterlein entstanden ist. Nun hatte unser Kloster am linken Ufer des Schwarzwassers, da, wo die Mulde (milde) sich mit demselben vereinigt, einen Propsteihof. Dieser ist als der Kern der Stadt Aue anzusehen; denn um ihn herum siedelten sich mehr und mehr Leute an und so entstand der Ort Ouwe, Owe, Aue, so genannt von der Aue, in welcher er liegt, der später Stadtrecht erhielt.

Wie die meisten Klosterkirchen, so wurde auch die zu Zelle stark von Wallfahrern besucht, wenn auch in der Nähe das Cistercienserkloster Grünhain wegen seines wunderthätigen Marienbildes noch berühmter war. — In unsere Kirche waren auch Ober- und Niederschlema („die Schlem“) eingepfarrt. Oberschlema hatte aber eine kleine Kapelle, in welcher Mönche von Klösterlein Gottesdienst hielten. Ebenso wurden auch die Kapellen zu Lauter und Bockau, welche Orte ihr Pfarrrecht in Aue hatten, mit Vikarien aus Zelle versorgt. Als das Kloster im Jahre 1633 säcularisiert wurde, änderte sich das kirchliche Verhältnis zwischen Zelle und Schlema: Zelle wurde die Filiale von Oberschlema bis zum Jahre 1857, wo es in dasselbe Verhältnis zu Aue kam. 1879 ward Klösterlein-Zelle eine selbständige Parochie.

Nun hat zwar die Kirche außer schönen Holzschnitzereien an der Kanzel und etlichen guten Bildern an der herrschaftlichen Empore nichts besonders Merkwürdiges aufzuweisen; denn die Grabstätten der alten Pröpste und ein unterirdischer Gang, welcher aus dem Kloster, dem jetzigen Rittergute, dahin geführt haben soll, sind zugeschüttet und der Fußboden ist bei der letzten Restaurierung der Kirche 1879 durchgängig asphaltiert; aber dennoch lenkt der der Geschichte der Kirche Kundige den Blick sinnend wohl längere Zeit auf sie, als auf manches andere Gotteshaus. Denn sieben Jahrhunderte sind an ihr vorüber gegangen und sie könnte erzählen von den Tausenden von Wallfahrern, welche in ihr ihre Andacht verrichteten, aber auch erzählen von der Zerstörungswut der Hussiten, die 1429 in Kloster und Kirche die schrecklichsten Verwüstungen ausführten, erzählen, wie sie im 30jährigen Kriege (1640) ein Opfer der Raubsucht der Schweden unter Königsmark wurde. Wie oft hat sie die Hochfluten der dicht an ihr vorbeifließenden Mulde, den stillen Friedhof bedrohend, vorüber brausen sehen. Jahrhunderte lang stand das Kirchlein einsam, abgeschieden von dem Weltgetümmel; die Neuzeit aber, welche das Auer Thal zu einem der gewerbreichsten Teile des Erzgebirgs machte, hat die Industrie bis in seine nächste Nähe gerückt. Ehedem erschollen hier nur die Feierklänge der Klosterglocken und etwa die einzelnen Schläge eines Eisenhammers, und jetzt brausen zahlreiche Züge zweier Eisenbahnen an ihr vorüber. Wie viel hat diese Kirche erlebt, wie vielen Geschlechtern gedient! Noch steht sie fest und, Dank der Fürsorge der Kirchgemeinde, keineswegs altersschach da. Möge sie noch lange stehen als ein ehrwürdiges Denkmal aus grauer Vorzeit, lange noch ihrem heiligen Zwecke dienen!

G.

Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 1. Jg. Nr. 5 v. 15. Mai 1881, S. 44 – 45