Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 127. Jahrgang, Nr. 3, 14. Januar 1934, S. 1
Von Dr. Ernst Gehmlich, Zwickau.
(1. Fortsetzung)
„Der Markt ist ziemlich regelmäßig, auch einige Gassen (z. B. die Buchhölzer, Wolkensteiner); aber die andern sind meistens abhängig, weil die Stadt am Berge liegt, und man hat mir erzählt, daß dieselben im Winter oft mit Lebensgefahr zu passieren sind, wenn es glatt ist…” „Der Anbau neuer Häuser ist neuerlich sehr betrieben worden, da Annaberg und Buchholz das Privilegium einer erhöhten Baubegbnadigung 1) genossen.” Man habe dieses aber beiden Städten wieder entzogen, da die neugebauten Häuser bisweilen gar bald baufällig geworden seien und ein Kammerkommissär an seinen neuen, nicht gerade für die Ewigkeit errichteten Häusern „etwas verdient” habe.
Die wichtigsten Nahrungs-Quellen Annabergs sind Spitzenhandel, Klöppeln, Bandhandel und Bergbau. „Der Spitzenhandel ist sehr ausgebreitet, und die hiesigen Spitzen gehen durch ganz Europa. Man fertigt alle Arten, bis zu den feinsten, wo die Elle mehrere Taler zu stehen kommt. Wöchentlich ist hier ein Spitzenmarkt, den Käufer und Verkäufer aus der ganzen Nachbarschaft besuchen.” Der Kaufmann Mende 2) habe mit vieler Mühe eine Maschine zum „Tramieren – Zwirnen des Nesselgarns” – nach einem in Berlin befindlichen Modell anfertigen lassen; sie werde freilich jetzt „etwas saumselig betrieben”. „Die Zahl der hiesigen Posamentiere beläuft sich gegen 240, die über 500 Stühle haben. Die hiesigen Band-Handlungen sind sehr ansehnlich, sowie überhaupt der hiesige Handel. Es gibt hier sehr reiche Handelshäuser, unter denen die Eisenstuckschen, das Querfurtische, Benkertsche, Mendische und andere die vorzüglichsten sind. …” „Sehr ansehnlich ist auch die Frickische Handlung, in welcher man alles Mögliche von sog. Nadlerwaren bekommen kann.” Sie habe ihren Aufschwung dem Lotterieglück ihres früheren Besitzers zu verdanken. „Der hiesige Handel gewinnt durch die Nähe Böhmens außerordentlich, da die Böhmen haufenweis hieher kommen, und alles teurer bezahlen müssen, als hiesige Einwohner.” Der Bergbau ist sehr ansehnlich, war es freilich früher noch mehr. „Die jetzt noch einträglichsten Zechen sind die Andreasgrube und der Markus Röhling … Im Jahre 1789 lieferte der annabergische Bergbau 1070 Mark Silber, 1000 Zentner Kobald und 600 Zentner Arsenik. In dem hiesigen Bergamtsreviere befinden sich gegen 80 Gruben und 600 Bergleute.”
„Unter den hiesigen öffentlichen Gebäuden zeichnet sich besonders die große Stadtkirche zu Sankt Anna aus. Eine ungeheure Steinmasse, die unstreitig unter allen Kirchen Sachsens die größte ist und gewiß in ganz Deutschland wenige ihresgleichen finden wird. Das Gewölbe ruht auf zwölf steinernen Pfeilern, und hat eine erstaunliche Höhe: die Länge der Kirche beträgt 110 Ellen. Sie ist übrigens nicht prächtig, sondern noch im alten Stil gebaut; einige Gemälde sind ganz hübsch. Unter den drei nebeneinander stehenden Altären ist der mittelste von weißem Marmor, aber nicht geschmackvoll gearbeitet. Sie hat zwei Singechöre und Orgeln.” Der frühere Geistliche Meyer habe dies alles in dem Buche „Herrlichkeit des Annabergischen Tempels” beschrieben. Ruhheim war von der Abneigung des 18. Jahrhunderts gegen die „Barbarei der Gotik” noch so stark beherrscht, daß er für die Schönheit der großen spätgotischen Kirchen in Annaberg, Schneeberg und Zwickau kein Auge hatte. Ein wenig Anerkennung hat er für die St. Wolfgangskirche in Schneeberg übrig; sie sei, sagt er, der Kirche in Annaberg ähnlich, „aber noch geschmackvoller”. Dagegen spricht er der Marienkirche in Zwickau alle Schönheit ab. Diese „ist eine alte massive Steinmasse in gotischem Geschmacke gebaut. Ehedem soll sie mit dem dabei befindlichen, sehr hohen Turme ein Meisterstück der Baukunst gewesen sein. Jetzt macht sie wenig Figur mehr.” Im übrigen ist er aus praktischen Gründen ein Gegner der großen Kirchen; sie kosteten „unsägliches Geld” und seien „wahre Plagen für die Prediger”, hätten sich doch schon manche Geistliche an diesen Kirchen durch die Anstrengung, die sie sich beim Predigen auferlegen mußten, das Leben verkürzt.
„Eins der besten Gebäude Annabergs ist die vor einigen Jahren neugebaute (Latein-) Schule, die sehr schön und bequem angelegt worden ist, welches ohne die vielen wohltätigen Beiträge sowohl von hiesigen Einwohnern, als aus fremden Orten nicht hätte geschehen können. Besonders hat sich um dieselbe der Inspektor Biedermann, welcher zugleich Stadtrichter ist, sehr verdient gemacht. – Die Schule selbst ist jetzt mit gelehrten und verdienten Männern besetzt und in sehr gutem Zustande, da sie nur noch vor einigen Jahren durch einen einzigen Lehrer ganz in Verfall gekommen war. Dieses war nämlich der Konrektor Resch, ein Sonderling und Cynikus im höchsten Grade, welcher deswegen, ob er gleich gute Kenntnisse besitzen soll, bei seinen Schülern zum Gespött wurde. An seine Stelle ist jetzt ein junger Mann, namens König, gekommen, einer von den jetzt so seltnen gründlichen und zugleich geschmackvollen Gelehrten. Gestern besuchte ich ihn und fand an ihm einen vortrefflichen, artigen Mann. Er hatte sehr viele Zöglinge und Kostgänger bei sich, und diese haben wirklich ein glückliches Los. Doch sagte man mir, daß sie bei dem ansehnlichen Kostgelde immer etwas zu kärglich leben müßten. Daß dies begründet sei, kann ich nicht mit Gewißheit behaupten, und will es des würdigen Königs wegen nicht einmal vermuten.
Der Rektor der Schule ist ein alter, gelehrter und verehrungswürdiger Veteran, namens Grimm, der Herausgeber einer sehr brauchbaren und guten Chrestomathie aus des Dionysius von Halikarnaß römischen Altertümern und einigen kleineren Abhandlungen. Er erhielt noch kürzlich den Ruf als Rektor nach Freiberg, den er aber seines Alters wegen ausschlug. – Zu beklagen ist das Los dieses armen Mannes, der, als er in den Jahren, wo er etwas zu leisten vermocht hätte, und auch gewiß gern geleistet hätte, an Resch einen so schlechten Nebenkollegen hatte, mit den Primanern Grammatik treiben mußte, und doch hat er, wiewohl mit der äußersten Anstrengung und Fleiß, sehr viele brauchbare Männer gezogen. – Jetzt nun, da er einen so braven Konrektor hat, sieht er seinen guten Willen durch seine Kräfte, die immer mehr abnehmen, beschränkt. Jedoch tut er noch sein Möglichstes, und wirklich läßt sich von der Schule nun etwas versprechen, da auch die untern Klassen gut besetzt sind. Und diese Schule hat auch immer sehr geschickte Männer zu Lehrern gehabt. Gottleber, Martini und Müller haben das hiesige Rektorat gehabt. Ersterer kam bekanntlich nach Meißen; Martini aber nach Leipzig.”
Es erscheint zweckmäßig, hier einiges über die von Ruhheim erwähnten Schulmänner einzuschalten. Martini (aus Tannenberg) war bis 1763 Rektor der Lateinschule in Annaberg, wurde dann Rektor des Gymnasiums in Regensburg und 1779 der Nicolaischule in Leipzig. Sein Nachfolger war Gottleber (aus Chemnitz). Er tat viel für die Pflege der Muttersprache in der Schule. Seine in einer „deutschen Gesellschaft” vereinigten Primaner mußten sich in Prosa und Poesie nach den Vorbildern angesehener Dichter und Schriftsteller der Zeit versuchen und gegenseitig Kritik an ihren Leistungen üben. 1772 berief man ihn als Rektor an die Fürstenschule in Meißen. Nun übernahm Grimm die Leitung der Annaberger Lateinschule. Er trat Ende 1803 in den Ruhestand und starb 1811. Außer der von Ruhheim erwähnten Chrestomathie veröffentlichte er auch „Proben einer deutschen Uebersetzung aus Sophokles bestraften Ajax” (1790). Der von Ruhheim irrtümlich als Rektor bezeichnete Müller (aus Frohnau) ist der 1786 verstorbene Konrektor dieses Namens. An dessen Stelle trat Resch 3) (aus Annaberg), der „Sonderling und Cynikus”. Als am 7. Dezember 1795 das neue Schulgebäude eingeweiht wurde, trat er von seinem Amte zurück. Ihn ersetzte König, der aus Chemnitz kam, hier jungen Leuten, die das sehr heruntergekommene Lyceum nicht besuchen mochten, in seiner Privatschule Unterricht erteilt hatte. In der Sekunda der Annaberger Lateinschule fand er nur 3 Schüler vor. Im Jahre 1800 ging er als Tertius an die Fürstenschule in Meißen; 1813 rückte er zu deren Rektor auf. In Annaberg folgte auf ihn in der Stellung des Konrektors Fähse, dem wir noch begegnen werden. Er war Hauslehrer und Rektor einer öffentlichen Schule in Ungarn gewesen, hatte von 1796 bis 1798 an der Universität Leipzig Vorlesungen über Philosophie und Pädagogik gehalten und dann als Lehrer am Pädagogium in Halle gewirkt. 1804 trat er in Annaberg die Nachfolge Grimms an, 1809 folgte er einem Rufe nach Zerbst als Rektor des Francisceums. Er machte sich durch Übersetzungen griechischer Philosophen und Dichter bekannt, „in denen er manche ansprechende Verbesserung gibt, aber von Metrik nur geringe Kenntnisse zeigt und noch weniger Geschmack, so daß die Literaturhistoriker ihrer nicht einmal Erwähnung tun” (Eckstein). Ganz trifft die letzte Bemerkung dieses Urteils nicht zu. Goedekes Grundriß der Geschichte der deutschen Dichtung nennt im Überblick über die deutsche Übersetzungsliteratur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts Fähses Übertragungen wie auch die Grimms. Ferner hat die Allgemeine Deutsche Biographie den Rektoren Gottleber, König und Fähse als Schulmännern Denkmäler gesetzt.
Ruhheim berichtet auch über einige störende Eindrücke, die er vom Schulleben Annabergs empfing. „Da ich heute”, schreibt er, „nachmittags immer vor der Stadt trommeln hörte, fragte ich nach der Ursache desselben, und man sagte mir, daß das Gregoriusfest der Schüler sei, welches sehr solenn hier gefeiert würde [Dreitägig von Montag bis Mittwoch vor Himmelfahrt]. Mich wunderte es, daß, da schon so viel über diese erniedrigende und oft kindische Gewohnheit gesagt worden, man es hier nicht längst abgeschafft hätte. Man versicherte mir aber, daß dieses die äußerste Unzufriedenheit der Bürger nach sich ziehen würde, da sie es als ein besonderes Fest betrachteten und sozusagen selbst mit feierten. Bei demselben werden auch öffentliche Komödien oder Opern von den Schülern aufgeführt, und zwar bisweilen recht gut. Dies wäre wohl nicht zu tadeln, indem es manchen Vorteil für die jungen Leute haben könnte. – Das hiesige Schulchor sang sehr angenehm, doch soll es vor einigen Jahren noch weit besser gewesen sein. Der hiesige Kantor, Bomnitz 4), ist ein sehr guter und gründlicher Musikus.” Das Gregoriusfest wurde damals, wie auch der Geograph Engelhardt (1803) rügt, noch in vielen Gegenden „entehrend für Lehrer und Schüler gehalten”, „wo Knaben als Hanswürste verkleidet, mit Körben milde Beiträge für – den Lehrer einsammeln – wo man Fahnen und dergleichen, wie bei Schützenkompagnien trägt, – wo man den Umgang austrommelt, als ob – Hunde oder Affen tanzen sollten – u. s. w.” Ruhheim spricht weiter den Wunsch aus, daß in Schneeberg und Annaberg „die Gewohnheit abgeschafft würde, nach welcher die Schüler genötigt sind, blautuchene Mäntel zu tragen. Wie beschwerlich muß dies nicht im Sommer sein, und wie sehr muß sich nicht oft ein Armer plagen, ehe er sich einen erschwingt.”
1) Die „Baubegnadigung” bestand in einem den Städten gewährten Anteil an der von ihnen eingenommenen staatlichen Generalconsumtionsaccise (einer Verbrauchssteuer). Er bewegte sich zwischen 5 und 30 v. H. dieser Einnahme. Die Städte sollten davon wüste Stellen wieder bebauen, neue Wohnhäuser errichten und verfallene alte erneuern. Die Einrichtung bewährte sich gut, oft bauten kleine Städte in 10 Jahren 70 bis 80 neue Häuser; allgemein gewannen die Städte an Zahl und Schönheit der Häuser.
2) T. A. W.-Verlagsgebäude.
3) Hübschmann (Was haben wir in Annaberg seit 26 Jahren erlebt? Oder: Die Denkwürdigkeiten der Jahre von Anno 1793 bis 1819. Annaberg 1819) und Ziehnert (Kleine Kirchen- und Schulchronik der Ephorien Annaberg und Grünstädtel. Annaberg 1839) nennen ihn Rosch. Hieß er vielleicht Rösch?
4) Nach Hübschmann war Bomnitz schon 1798 gestorben.