Hermann Lange
… Daß sie von dem Sauerkohle
eine Portion sich hole,
für den sie besonders schwärmt,
vor allem, wenn er aufgewärmt!
W. Busch
1658 beendete Mag. Arnold seine Chronik. Sie hat dann irgendwo geschlummert, bis sie 1812 bei Hasper, Annaberg, im Druck erschien. Leider! Denn damit begann eine unglückliche Periode der Stadtgeschichte, die z. T. bis in unsere Tage reicht. Es ist ja so bequem, den alten Arnold abzuschreiben, trotzdem er recht wenig zuverlässig ist.
So lesen wir bei ihm zu 1632 (S. 258) für die Holksche „Belagerung“: „Welchen die anwesende Fraw Gräffin von Haßenstein … entgegen gangen.“ 1651 (S. 286) ist Sisonie aber, als sie stirbt, wieder bei ihm das „Fräulein„; denn er schreibt: „Den 28. Merz ist in Gott verschieden Fräwlein Sydonia, Freyin v. Lobkowitz und Hassenstein.“
Zu dieser Meldung tritt die Lehmannsche Kriegschronik mit der Nachricht: „… und als der General die Stadt vom Schottenberg ließ anblasen … schickte der Rath erstlich entgegen die Wohlgeborene Frau Elisabeth Schlickin, Burggräffin zu Passau … eine böhmische Exulantin, die sich itzo in der Stadt aufhielte.“ Etwas später (1776) lesen wir bei Meier (Die Herrlichkeit des Annabergischen Tempels, S. 57) zum Leichenstein Nr. 30: „Das Wohlgeborene Fräulein, Fräulein Sidonia, Freyin v. Lobkowitz und Haßenstein, starb zu Annaberg am Charfreitag, den 28. Mart 1651. Ihres Alters 54 Jahr und 6 Monate.“ Damit zitiert er den Text einer gußeisernen Platte, der heute am Altarplatz der Trinitatiskirche nachzuprüfen ist. S. 73 (Nr. 13) schreibt Meier weiter: „Elisabeth Schlickin, verw. Burggräfin zu Dohna (??) und Exulantin aus Böhmen. Sie verließ dieses Irdische den 31. Aug. 1639″. Damit wiederholt er Arnold S. 276, bei dem wir lesen: „1639 den 31. Aug. verschied in Gott Frau Elisabeth Schlickin, Burggräfin zu Dohna, Wittib, damals Exulantin.“ Der bisher im Ratsarchiv liegende Ur-Arnold enthält unter 1632 die Nachricht: „Welchen die domahls wesende Frau Gräffin v. Haßenstein nebens Caspar Schreiter, Rathsverwandten vnd dem Stadtschreiber am Buchholzer Thor entgegen gangen …“ Damit ist der Ursprung der Falschmeldung festgelegt. Michael Friedrich Lahl und ein anderer, noch nicht nachgewiesener Chronist schreiben den Arnoldschen Text fröhlich nach.
Arnold ist zwar Zeitgenosse, aber kaum Augenzeuge des Vorganges gewesen. Dagegen haben wir wirkliche Augenzeugen und ihre Aussagen. Die Unterhandlungen zwischen Holk und dem Stadtregiment fanden im Haus (jetzt) Ernst-Thälmann-Straße 34 statt. Das war damals das erste Haus hinter dem Buchholzer Tor. Es gehörte (nach dem Haus-Lehnbuch 17, Bl. 26) einem Kupferschmied Steffan Auermann, später dessen Sohn Hans († 1633) und schließlich seinem Enkel, dem Kupferschmied Ludwig Kleinhempel (HLB, 22 fol. 160), der es nach 1642 von seiner Mutter, Dorothea geb. Auermann, übernahm. (Siehe Eintrag Nr. 261 der Familienchronik.)
Sowohl Ludwig Kleinhempel, als auch sein Sohn Georg hinterließen uns je eine Chronik, in der sie von dem Vorgange berichten. Ludwig, der Vater, schreibt in seinem Eintrage 147: „So ist die Gräfin von Haustein dem Obersten entgegen gangen und hat vor die Stadt gebeten … Ist der Vertrag bei meinem Vetter Hans Auermann in seinem Haus vollzogen worden. Sind dabei gewesen der Oberste Holke und die Frau Gräffin und der Herr Apotheker Caspar Schreiber und der Stadtschreiber und mein Vetter Hans Auermann …“ Georg, der Sohn, berichtet dasselbe, nur spricht er von der „greffin von Hunstein“.
So stehen die Nachrichten 1:3 gegen Arnold, und die Angelegenheit ist für den Geschichtsfreund erledigt. Aber die drei erwähnten Schriften führten ein verborgenes Dasein, und ihre Nachrichten schwanen aus den Köpfen der Annaberger.
Als 1832 der Jahrestag herannahte, wollte man die Errettung der Stadt feiern und fiel wieder auf Arnold herein, dessen Chronik kurz vorher (1812!) im Drucke erschienen war. Die Museumsgesellschaft nahm sich der Sache an und widmete der Angelegenheit einen ganzen Abend. Ein Redner (Name nicht feststellbar!) hielt einen großen Vortrag, gespickt mit wörtlichen Reden von Sidonie und Holk, wie man an den reichlichen Anführungsstrichen erkennen kann. Unter anderem behauptete der Redner: „Im Schlösselgut (das damals nicht bestand! d. V.) hatte Holke mit seinem Offizierstab Quartier genommen und sah von dort aus die verschleierte Dame mit ihrem Gefolge.“
Woher hatte der Festredner seine Kenntnisse? 1958 kam mir durch freundliche Vermittlung unserer Kreis-Archivarin, Frau Schönbörner, ein alter Stolpischer Kalender für 1832 in die Hände und ich staunte beim Durchblättern! Wörtlich standen dort die zierlichen Ausführungen des Annaberger „Geschichtsforschers“! Sogar ein Bild war beigegeben, auf dem Sidonie händeringend vor dem zu Pferde sitzenden Holk zu sehen ist. Zu diesem Bilde müssen wir eine weitere Veröffentlichung ziehen: In dem „Vorletzten Weltgang Semilassos“ schreibt Fürst Hermann v. Pückler/Muskau 1835 I, 34: „Nicht ohne Rührung sieht man das Bild der schönen Freifrau v. Lobkowitz, die en payant de sa personne, Annaberg muthig im Lager der unbarmherzigen Schweden (!!) losbat.“ Hat Fürst Pückler in unserer Annenkirche wirklich ein solches Bild gesehen? Wohin ist es gekommen? Oder hat man ihm ein anderes Bild falsch vorgestellt? Außerdem leistet er sich einen neuen Irrtum, indem er Holk als Schwedengeneral hinstellt. Auch dieser Fehler wird später von Ruhsam (1829) in der Festschrift der Museumsgesellschaft wiederholt (Annabergs 200jährige Jubelfeier am 20. August 1832): „Zum Andenken an die Rettung und Verhinderung gänzlicher Zerstörung von den Schweden (?) unter Holke durch die Gräfin Sidonie v. Hassenstein.“
1881 erscheint Karl Petermanns „Geschichte des Kgr. Sachsen“ bei Julius Klinkhardt in Leipzig, die S. 195 ganz in diesem Sinne berichtet. U. a. lesen wir: „Schon dröhnte Kanonendonner vor den Mauern der Stadt. Jeden Augenblick drohte den geängstigten Bewohnern Tod und Verderben.“
1884 erscheint im Annaberger Wochenblatt Nr. 70 vom 23.3. am Ende eines großen sachlich verfaßten Artikels über den 30jährigen Krieg auch unsere Geschichte wieder. Darin wird ganz richtig Elisabeth v. Hauenstein zitiert! Wie so viele gute Nachrichten wird diese Ausführung in der Folgezeit nicht beachtet und die Ente von der „Sidonie“ taucht – wie es ja einer redlichen Ente zukommt – immer wieder an der Oberfläche auf.
Als das Jahr 1932 erscheint, verzichtet die Stadtverwaltung auf eine Feier, da kurz vorher von Paul Heilmann (-cj-) eine berichtigende Arbeit im Illustrierten Sonntagsblatt Nr. 34 steht. Leider hat Heilmann einen neuen Schnitzer in die Geschichte gebracht, wenn er meint, Holk habe die Stadt beschießen lassen, indem er die Wendung „Vom Schottenberg aus anblasen ließ“ irrig auslegt. Oder hat er Petermann gelesen? Unglücklicherweise hat man bereits um 1904 die falsche Lesart verewigt, indem man an einem Straßenanfang das Schild anbrachte: „Sidonienstraße“. Deshalb berichtet uns das Adreßbuch für 1906 S. 140: „Angelegt 1904, benannt 1905 (Von Finck?) Sidonie von Lobkowitz und Hassenstein ward am 20. August 1632 zur Retterin der Stadt Annaberg.“ Heute stehen dort nur zwei Häuser und man könnte den Lapsus auf einfache Weise beseitigen, wenn man sie an die Nachbarhäuser der Kleinrückerswalder Straße durch a und b anschlösse! Inzwischen hatten sich aber auch zwei geschäftstüchtige Schriftsteller des alten Sauerkohls angenommen und ihn in zwei Dichtungen aufgewärmt. 1929 veröffentlichte Herm. Uhlig, Lauter, im Selbstverlag sein Stück: Sidonie v. Hassenstein oder Der Engel von St. Annen. (Aufführung nur gestattet bei Bezug von 20 Rollenheften. Von jeder Aufführung sind mindestens 10 Mark unaufgefordert an den Verfasser einzusenden !!). Zwei Jahre vorher brachten die „Pöhlbergbücher“ ein ähnliches Produkt. Das war ein Roman von Herm. Holländer: Die alten Bilder Hassensteins. Die Seite 97 bringt den Arnold-Text. Sidonie wird bei einem Besuche Holks von ihrem Anbeter verwundet. Bei einem zweiten Besuch wird Holk abgewiesen, da Sidonie krank ist.
Damit nicht genug; aus dem Schutt und der Asche der Bombennächte steigt wie ein neugeborener Phönix wieder die unsterbliche Ente in einem Artikel von – klp -. Wer’s nicht glaubt, lese nach in der Volksstimme 1957 vom 9. Februar.
Quelle: Kultur und Heimat 7. Jg., November 1960 S. 171 f.