Der alte Wachtturm

Curt Langer, Annaberg-Buchholz

Auch bei diesem denkwürdigen Bauwerk müssen wir das Bestreben vieler Heimatforscher feststellen, ihm ein möglichst hohes Alter nachweisen zu können, selbst wenn dazu einige historische Tatsachen etwas „zurechtgebogen“ werden müssen. Die Grundlage für alle diese Versuche ist ein Bericht des zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Geyer amtierenden Pastors Gustav Friedrich Blüher. Dieser Bericht besagt im wesentlichen, daß in frühester Zeit der Kirchhof zu Geyer eine starke Umfassungsmauer besaß, in die der Wachtturm eingebaut war. Er hatte den Eingang zu schützen, während kleinere Türme an oder nahe den Ecken der Ummauerung gestanden hatten. Soweit Blühers Angaben. Was aber hat man daraus geschlossen? Blüher selbst war der Ansicht, daß an dieser Stelle schon lange vor der Zeit, aus welcher uns die Urkunden erhalten sind, die Burg eines Rittergeschlechtes „von Geyer“ gestanden habe, das bei der ersten Besiedelung dieses Teils des Gebirges aus Franken eingewandert, aber schon bald darnach ausgestorben sein müsse. Johannes Falke weist in seiner „Geschichte der Bergstadt Geyer“ (1866) diese Annahme entschieden zurück, hält es aber für möglich, daß hier eine bis vor die Hussitenzeit zurückliegende Befestigung vorhanden gewesen sein könne, die als eine Art Vorburg der Herrenburg Scharfenstein dazu bestimmt war, den über die umliegenden Gegenden zerstreuten Bewohnern im Kriegsfalle als Zufluchtsort zu dienen. Es liegt ihm aber fern, diese Möglichkeit als historisch begründete Tatsache hinzustellen, vielmehr spricht er ausdrücklich von dem „schwankenden Boden der Sagen und Mutmaßungen“! Spätere Heimatforscher glauben dann in dem Wachtturm den Bergfried der „Burg Greifenstein“ feststellen zu können oder wenigstens den einer „Vorburg“, ohne daß sich hierfür irgendwelche historische Beweise beibringen lassen.

Was besagen nun gegenüber diesen „Sagen und Mutmaßungen“ die Akten und Urkunden, die aus jener Zeit auf uns gekommen sind? Es gibt keine Urkunde, keinen Akteneintrag aus der Zeit vor 1560, die diese Ansichten bestätigen könnten. Dagegen besitzen wir aus den Jahren 1564 bis 1568 verschiedene amtliche Nachrichten, die dem vorurteilsfrei an die Geschichte herangehenden Forscher ein deutliches Bild der wirklichen Lage geben. Was sagen sie?

Eine der angesehendsten Familien von Geyer in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war die Familie Schnee, die neben mehreren anderen Grundstücken auch einen „freien“ Hof, d. h. Einen rittergutsähnlichen Hof besaß, der nicht der Stadtgerichtsbarkeit unterstand, sondern unmittelbar dem Amt Wolkenstein. Er wird gewöhnlich als „Lehnhof auf dem Geyersberg“ bezeichnet. Etwa im Jahre 1560 verkaufte Peter Schnee diesen Freihof an seinen Schwager, den Koburger Amtmann Heinrich von Etzdorf, der damit auch eine Schuld von 247 Gulden übernehmen mußte, mit der Peter Schnee dem Gotteshaus und dem Rat zu Geyer verhaftet war. Deshalb schrieb letzterer am 2. März 1564 an Heinrich von Etzdorf einen Brief, in dem er anfragte, ob Etzdorf diese Schuld nicht jetzt ablegen wolle, „weil sie zu ihrem  Turmbau, den sie an der Kirche angefangen (hätten) und der nun schon in die 400 Gulden koste, mehr Geld bedürften“. Diese Mahnung hatte Erfolg, ja, Etzdorf lieh darüber hinaus der Stadt Geyer noch weitere 30 fl., wobei ausdrücklich bemerkt wurde, daß sie zu dem Turmbau bestimmt sind. Aber bereits Anfang 1566 forderte Etzdorf durch Peter Schnee dieses Darlehn wieder zurück, weshalb der Rat am 15. April 1566 ein neues Schreiben an Etzdorf richtete, in dem es hieß: „I(hre) G(naden) hätten mit dem Gelde gar nicht so zu eilen gehabt, zumal da dasselbe zu Turm, Wacht und Läuten gebraucht sei, wodurch I. G. als der in Geyer einen Hof und Lehngut und nicht den geringsten Teil des Zinnbergwerks, sondern den mehren hat und (deshalb) den größten Vorteil genießt …”

Zwischen diesen beiden Schreiben an Etzdorf liegt noch ein drittes, das ebenfalls Aufschluß über den Turmbau gibt. Am 1. Mai 1565 richtete der Rat an den Kurfürsten eine Eingabe, in der er nach Anführung mehrerer anderer Bauten, die in dieser Zeit ausgeführt worden waren, schrieb: „… mehr haben wir unsere Kirche renovirt, die Dachung besteigen und ausbessern lassen und daneben einen neuen Turm aufgeführt, darauf wir einen Wächter Tag und Nacht halten können, damit auch des Bergwerks halben mit dem An- und Auslauten (der Schichten) rechte Stunden und Richtigkeit gehalten (werden kann), darin wir bis zu 900 Gulden verbaut …” Der Rat bat daher den Kurfürsten, ihm die Tranksteuer zu erlassen, durch die er besonders beschwert sei.

Da sich gegen diese klaren Darstellungen kaum etwas einwenden läßt, sucht man das höhere Alter des Turmes dadurch zu beweisen, daß man behauptet, bei diesem Turmbau handle es sich nicht um einen völligen Neubau, sondern nur um einen Aufbau auf dem unteren Teil eines älteren Turmes, eben des Bergfrieds der angeblichen Burg. Nun ist zweifellos richtig, daß der heutige Wachtturm aus zwei deutlich getrennten Teilen besteht, einem „roheren und festeren vierseitigen Unterbau und einem späteren sechsseitigen (richtig achtseitigen) Oberbau. Der Eingang zum Turm geht nur von der Empore der Kirche zu diesem Oberbau” (Falke). Das beweist aber nicht, daß dieser Unterbau vorher ebenfalls einen mächtigen Turm getragen haben muß, wie es der „Bergfried” einer Burg doch gewesen sein müßte. Auch der Umstand, daß der Zugang zum Turm nur von der Kirche aus möglich war, hat man als Beweis für das hohe Alter des Turmes angesehen. Aber m. E. läßt gerade dieser Umstand darauf schließen, daß auch dieser Unterbau erst nach der Errichtung der Kirche, die laut Inschrift im Jahre 1506 vollendet wurde, entstanden sein kann. Denn sonst müßte er doch auch einen Zugang gehabt haben.

Solange wir also nicht weitere Beweise für ein höheres Alter des Turmes beibringen können, müssen die drei Schreiben des Rates aus den Jahren 1564 – 1566 für uns maßgebend sein, in denen es heißt, daß man einen Turm zu bauen angefangen habe und daß es sich um einen neuen Turm handele.

Aber auch Blühers Ansicht über das Alter der Ummauerung des Kirchhofes muß anscheinend auf Grund der urkundlichen Nachrichten korrigiert werden. Nachdem im Jahre 1566 Hieronymus Lotter den „Lehnhof” von Heinrich Etzdorf erworben und prächtig ausgebaut hatte, nahm Kurfürst August mehrmals hier Aufenthalt, wenn er im Erzgebirge zur Jagd weilte. Er fühle sich aber dadurch beschwert, daß der Kirchhof unmittelbar an den „Lotterhof” angrenzte und verlangte daher von dem Rat, daß der Kirchhof verlegt werden solle. Der Rat war auch sofort damit einverstanden, diese Verlegung vorzunehmen, wie ein Schreiben an den kurfürstlichen Landrentmeister beweist. Als er dann im Jahre 1568 aufgefordert wurde, Maurer zum Bau der Augustusburg zu stellen, teilte er Hieronymus Lotter am 20. April jenes Jahres mit, daß er diese Maurer nicht senden könne, da er „wilsens wäre, verschiedene neue Gebäude aufzuführen und auch den neuen Gottesacker jetzt alsbald mit einer Mauer zu umgeben”. Die Blüherschen Angaben werden also durch die Urkunden sehr wohl unterstützt, nur können sie sich nicht auf das 14. oder 15. Jahrhundert beziehen, sondern auf die 60er Jahre des 16. Jahrhunderts. So schmerzlich es also auch für manchen Lokalpatrioten sein mag, wir können keinen aktenmäßigen Beweis dafür erbringen, daß der Wachtturm bereits in der Gründungszeit Geyers errichtet worden sein könnte, noch viel weniger, daß er der Bergfried irgend einer Burg gewesen sei. Alle diesbezüglichen Versuche gehören in das Reich der „Sagen und Mutmaßungen”. Man sollte daher auch nicht mehr versuchen, sie zu stützen; denn die hohe geschichtliche Bedeutung des Turmes, die außer Frage steht, wird ja dadurch nicht gemindert, daß er einige Jahrzehnte jünger ist, als man ihn gern sehen möchte. Geyer mag sich vielmehr freuen, daß es so ein bedeutendes Geschichtsdenkmal sein eigen nennt.

Curt Langer, Annaberg-Buchholz.

(Anmerkung der Redaktion: Ist damit das Alter des Wachtturms geklärt? Wir glauben nicht. In einem Schreiben des Rates zu Geyer an den Kurfürsten vom 4. August 1573 heißt es: „Wollten unserer Kirche, da der Regen überall hindurchdringt, gerne aufhelfen, haben uns aber in vorigen Jahren am neuen Glockenturm sehr verbauet …” In Geyer wird auch heute noch zwischen Glocken- und Wachtturm scharf unterschieden. Geyersche Heimatforscher beziehen den Turmbau von 1565 auf den Glockenturm, Bfr. Langer auf den Wachtturm. Wir möchten diese Frage hier nicht weiter erörtern; bis neue Funde ganz einwandfreie neue Beweise erbringen, schließen wir die Diskussion zu diesem Punkt.)

Quelle: Kultur und Heimat 7. Jg., Januar 1960 S. 5 – 7