Aus der Geschichte von Kretscham-Rothensehma.

Dr. Siegfried Sieber, Aue

In zwei Handschriftbänden der Leipziger Stadtbibliothek entdeckte der Verfasser vor einiger Zeit Teile der vom Erzgebirgschronisten Christian Lehmann geplanten „Landchronik“. Die Bände stammen, ebenso wie die dort aufbewahrte „Sittenchronik“ Lehmanns, aus dem Nachlaß des sächsischen Geschichtsforschers Kreyßig. Außer dem 1699 erschienenen „Schauplatz“ und der 1911 gedruckten „Kriegschronik“ hat Lehmann noch eine „Bergchronik“, die „Sittenchronik“ sowie kleinere Werke verfaßt. Die „Landchronik“ ist nur in den erwähnten Entwürfen erhalten. Sie behandelt Orte aus der Umgebung von Lehmanns Wohnsitz Scheibenberg, darunter Ober- und Unterwiesenthal, Königswalde, Cunersdorf, Sehma, Hermannsdorf, Dörfel, Cranzahl, Kleinrückerswalde usw. und bietet viel unbekannten geschichtlichen Stoff.

Im folgenden werden Lehmanns Angaben über Kretscham-Rothensehma ergänzt und verknüpft mit weiteren Nachrichten aus Akten und Schriften, die der Verfasser zusammengestellt hat.

In Schlesien und Böhmen wurden Gasthöfe Kretscham, der Gastwirt Kretschmar genannt. Auch im Erzgebirge kommt diese Bezeichnung nicht selten vor. So behandelt Lehmann den Erbkretscham in Cunersdorf, und in der Holzordnung vom Jahre 1560 heißen die Gastwirte in Scheibe, Mittweida und Cunersdorf Kretschmar. Im „Schauplatz“ erwähnt Lehmann S. 445 Kalkbrüche mit Marmor „über dem kalten Kretschmar“ und meint damit Kretscham-Rothensehma.

In erwähnter Handschrift S. 299 nennt Lehmann diesen Kretscham einen „freien  Gasthof und Häuser“. Vorher habe dort eine Kohlstatt (Kohlenmeiler) gestanden, und 1455 habe Kurfürst Friedrich Freiheiten verliehen. Damit spielt Lehmann auf die Sage an (s. Meiches Sagenbuch, S. 800), daß hier und nicht bei Schwarzenberg der „Fürstenbrunn“ gewesen und Kunz von Kauffungen vom Köhler Schmidt überwältigt worden sei. Jedoch lehnen schon 1767 die Miscellanea Saxonica (2. Teil, S. 195) ab, in dem Erbgericht Rothensehma den Ort des Köhlers Schmidt zu sehen.

Als Waldnamen erwähnt Lehmann folgende zum Kretscham gehörigen Stücke: Stümpel (noch erhalten in den Namen Stümpelbach, Stümpelfelsen und Stümpelstraße), Bärenlohe, Niederschlag, Luxheide, Spittelhau, Armbrust (Lage unbekannt). Der Spittelhau kommt auf Oeders Karten vor und entspricht der heutigen Abteilung 1 und 5. Dieser Waldbesitz des Kretschmars wird von Lehmann mit 800 Ruten Länge, 627 Ruten Breite angegeben. In fünf Bächen durfte der Kretschmar fischen: Weiße Sehma, Rote Sehma bis zur Radstube der Neudorfer Brettmühle, Hellbächlein (wohl der Stümpelbach oder dessen östlicher Quellbach), Luchsbach (der in Kretscham in die Rote Sehma mündet, nicht zu verwechseln mit dem Luxbachtale bei Niederschlag), und Schulerbbächlein, genannt nach dem Neudorfer Schulerbe (Löscher). Zu Lehmanns Zeit war der Kretschmar mit 100 Steuerschock veranlagt und mußte für Hutweide 10 Gulden ans Amt zahlen. Laut Holzordnung durfte der Kretschmar sein Vieh, das Lehmann mit 50 Stück angibt, in folgende Waldschläge auf die Hutweide treiben: Am Eisenberg und Stümpel bis an die Joachimsthaler Straße, in die Luchsheide (heute wohl Erlheide) und an der mittleren Weißen Sehma (Weißemble). (Birke, S. 24)

Lehmann erzählt: Ungefähr 1500 hätten die Herren von Schönburg, in deren Oberer Grafschaft Kretscham lag, dort bauen lassen wegen „Räubern, die sich vor dem Walde spüren lassen“. Zwischen 1500 und 1527 hätten die Schönburger daselbst Räuber hinrichten lassen. Ein Köhler aus Unterwiesenthal habe davon einen gefroren aus dem Wasser gezogen, ihn im Sack nach dem Gasthof Unterwiesenthal geschleppt, in der Meinung, ihn als halberfroren wieder zu erwecken. Er legte ihn über die Bank in der „Hölle“. Dort taute er auf und „stank so greulich, daß Henker Kaden ihn für vieles Geld wieder“ wegbringen mußte.

In Bauernkriegsakten (W. P. Fuchs, Akten zur Geschichte des Bauernkrieges II, S. 737) erfahren wir aus einer Beschwerde der Dörfer Walthersdorf, Sehma und Cranzahl, daß 1519 der Abt von Grünhain den Schönburgern zugestanden hatte, einen „neuen Kretschmar“ oberhalb Cranzahl anzusetzen, der seinen Schank aufnahm und nur 14 Groschen Zins zu zahlen brauchte. Es war die Zeit des ungeheuren Zustroms von Bergknappen nach Joachimsthal. Da die Verpflegung und technische Ausrüstung der neuen Silberstadt von Zwickau aus erfolgte, gleich darauf Oberwiesenthal, vor 1530 auch Neudorf (an Stelle einer Wüstung) entstanden, machte der rege Verkehr die Gründung eines Kretschams erforderlich. Aus dem Bauernkrieg berichtet Lehmanns Kriegschronik (S. 16) noch, daß Ernst von Schönburg an der Roten Sehma einen der Aufrührer habe spießen lassen.

1526 verlieh Wolf von Schönburg das neue Freigut, wie man es nennen könnte, samt Brauhaus und Raum an Hans Brenner von Nürnberg (Glückauf 1922, S. 35). Dieser war Leiter der „Nürnbergischen Gesellschaft“, einer Kapitalgebergruppe, die Bergwerke bei Oberwiesenthal betrieb und das Eisenhüttenwerk Hammerunterwiesenthal angelegt hatte. Brenner ist oft als Bergwerksbesitzer feststellbar. In Gottesgab besaß er einen Stollen, der 1546 aufgelassen wurde; der Lauterseifen am Fichtelberg gehörte ihm 1533-41; er plante eine Saigerhütte in Oberwiesenthal, die von den Schönburgern erlaubt, von Herzog Heinrich mit Hinweis auf das Privileg der Saigerhütte Grünthal verboten wurde (Landeshauptarchiv Fach 1036/1. 8a). Die Holzordnung 1560 nennt Hammerunterwiesenthal „Brenners Hammer“, und Oeders Karte kennt „Brenners Kohlhau“. Schwarzenberger Akten (Landeshauptarchiv, Akten des Amtes Schwarzenberg 7370) besagen von Hammerunterwiesenthal: „1547 Brenners Hammer, so die Nürnbergischen erbaut, wohnt itzund Carol Frey und Kaspar Klinger darauf.“ Lehmann berichtet vom Jahre 1547, daß Georg Löwe in Kretscham wohnte, aber dann nach Böhmen zog. Frey, der neben dem Hammerherrn Klinger den Hammer besaß, erwarb von Löwe den Kretscham. Sein Sohn Sebald überkam das Anwesen, ließ ein „Häuschen für sich über dem Bach“ bauen, und fünf andre Feuerstätten entstanden, die der Oberförster dazu verlieh. Diese neuen Siedler rodeten Wald für ihre Gärten und Räume, Viehzucht war für Kretscham Hauptnahrungszweig. Braurecht wurde 1559 neu verliehen (Glückauf 1911, S. 42). Sogar das Recht, Handwerker zu setzen, wurde erteilt. Lehmann behauptet, 1559 habe Wolf von Schönburg den neuen Kretscham an Hans Prenner für 130 Schock Landeswährung verkauft und 10 Gulden Erbzins gefordert. Außer Brauhaus und Braugerät übernahm der Käufer Räume auf dem Stümpel und die „wüste Bärenloh“. Demnach hatte bei Hammerunterwiesenthal eine Siedlung Bärenloh gelegen, die im 16. Jahrhundert nach älterer Besiedlung wüst lag. Heute weist sie wieder einige Häuser auf.

1560 reiste ein Schotte Albrecht Misci von Cebbach, der in Annaberg für 200  rheinische Gulden Spitzen gekauft hatte (wichtig für Datierung der Spitzenklöppelei) bei Kretscham vorüber. Gegen Abend sprengte ihn ein Reiter an und schlug ihm offene Wunden in Kopf und Bein. Als er auf ihn schießen wollte, riß der Schotte mit seinem guten Pferd aus, ließ sich in Wiesenthal verbinden und beschwerte sich bei Kurfürst August. Im gleichen Jahre zündeten Freys Pachtleute, als sie in der großen, zehn Tische fassenden Gaststube des Kretschams Flachs dörrten, das Gebäude an. Aus dem stattlichen Besitz wurde danach ein geringer Hof. Er lag lange wüst und wurde im Dreißigjährigen Kriege halb eingezogen. Auf Kurfürst Augusts Reiseroute vom Jahre 1575 (Birke, S. 13) ist der „neue Kretschmar“ eingezeichnet, mitten im Walde, etwa einen Kilometer vom Neudorfer Waldrand. Laut Oeders Karten war um 1600 Carol Frey, dem 1597 der Hochofen in Hammerunterwiesenthal gehörte, Besitzer des Kretschams. 1631 kam der Goldschmied Theodor Reuß hier durch. Er wollte sich in Danzig niederlassen und hatte seine Handwerksbriefe aus seiner Heimat Joachimsthal geholt. Ein junger Bursche führte ihn bei Kretscham in einen Waldweg und erstach ihn.

1643 kaufte Hans Sachse aus Neudorf den Kretscham, gab ihn aber bald an Förster Michael Grabner aus Wiesenthal ab. Dieser baute das Anwesen ganz neu, starb aber bald darauf. Nun übernahmen Oberförster Cornelius Eberwein, Crottendorf (Glückauf, Jg. 6, S. 120), und Floßmeister Seligmann, Vizerichter in Neudorf, gemeinsam den Gasthof. Sie bauten 1658 ein Malz- und Brauhaus. Sehr bemerkenswert ist folgende Mitteilung Lehmanns: „1650 rissen der Verfolgung (ihres Glaubens, S. S.) halber die Joachimsthaler aus, 1000 Personen, und weil sie in Wiesenthal zu enge wohnten, erlangten sie vom Kurfürsten einen Platz zu einer neuen Stadt, dreiviertel Stunde über Kretscham, war an der Straße an der Sieben (7. Rundung) und Hellbächel (s. o.), ware auch schon abgestecket. Weil sie aber die umliegende Nahrung verderbt hätten (d. h. Nachbarorte fürchteten, in ihren Handwerken und dem Brauwesen benachteiligt zu werden. S. S.), wurde es verwehrt und mußten die Wiesenthaler zurücken und Platz im Vorstädtel geben.“ – Bekanntlich wurden von solchen Exulanten damals die Gemeinden Hammerunterwiesenthal und Stahlberg gegründet.

Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts war die Familie Eberwein bis 1919 hier ansässig. Wann sich weitere Siedler einfanden, wissen wir nicht. 1789 werden 10  „besessene Mann“ (Ansässig) vermerkt. 1846 waren 7 Wohnhäuser von 105  Einwohnern (davon 50 männlich, 55 weiblich) bewohnt. 10 Stück Rindvieh waren vorhanden. Erzgebirgswanderer Lindner spricht 1848 von 9-10 „löschpapiergrauen Häuserchen“.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Kretscham-Rothensehma eine vielbesuchte, weltbekannte Sommerfrische. Besonders seit Erbauung der Bahn nach Oberwiesenthal, 1897, kamen Gäste aus Dresden, Leipzig und vielen sächsischen Orten herauf. Nach 1919 diente der Gasthof samt Nebengebäuden und die 1905 zu Fremdenzimmern umgebaute Mühle mit Bäckerei als Erholungsheim der Leipziger Ortskrankenkasse und ist jetzt Sanatorium der Sozialversicherung des FDGB.

Nahebei stehen verlassene Halden des Uranbergbaues jüngster Zeit. Früher hat ein Kalkbruch Marmorplatten für den Fußboden der katholischen Hofkirche in Dresden geliefert. Auch wird 1819 eine Eisengrube „Gottes Geschick“ erwähnt (Glückauf 1904, S. 89). Die geologische Spezialkarte von 1883 zeigt im Walde südlich Kretscham eine „Eisensteinzeche“, und bis vor kurzem erinnerte dort ein Denkstein an einen Holzfäller Friedrich Roscher, der, 28 Jahre alt, am 25.1.1900 von einem fallenden Baum erschlagen worden war.

Der Ort stand seit Ankauf der Oberwäldischen Grafschaften seitens des Landesherrn, 1559, unter dem Amt Crottendorf, kam 1843 zum Amt Wiesenthal, danach zum Gerichtsamt Oberwiesenthal, seit 1875 zur Amtshauptmannschaft, jetzt Kreis, Annaberg. Nach Schiffner (1839) soll der Ort bestanden haben aus Kretscham, zur Gemeinde Neudorf gehörig, und Rothensehma, das sich zu Unterwiesenthal hielt. Die Einwohnerzahl betrug 1834 98, 1871 157, 1890 184. Später wurde Kretscham Ortsteil von Neudorf.

Quelle: Kultur und Heimat 6. Jg., Juli 1959 S. 104 — 106