Kleine Ursachen, große Wirkungen.

Illustriertes Erzgebirgisches Sonntagsblatt 126. Jahrgang, Nr. 44, 29. Oktober 1933, S. 1-2

Eine Alt-Annaberger Historie von anno 1541, nacherzählt von Oswald Rathmann.

Der Komet, welcher am 21. Ernting [August] am Himmel erschienen und schrecklich anzuschauen gewesen, wie ein Drachen, machte von allen Annabergern dem Schulmeister Heinrich Müller am meisten zu schaffen.

Tag und Nacht ließ es dem Braven keine Ruhe. Irgendetwas mußte dahinter stecken, ein böses Omina, ein schlimmes Vorzeichen, man wußte schon, was solche Himmelserscheinungen mit sich brachten: Not, Seuchen, Grauen und gar den Tod. Dagegen war keiner verwahrt, keiner. Aber man konnte sich doch vorbereiten auf sein seliges Stündlein, konnte alte Schuld abtragen, konnte sich ein Plätzlein sichern; das war bei solchem Übel immerhin noch ein Trost. Der Schulmeister glaubte ganz sicher, daß es schlimm abgehen würde, vielleicht mit der ganzen Bürgerschaft, sicherlich aber mit ihm. Nun, wenn er darüber nachsann, dann durfte er nicht einmal klagen. Er war alt geworden, alt und grau. Rings hatte er sich Freunde und Gönner erworben, alles war glatt und gut gewesen in seinem Leben, was wollte er noch hier? Platz machen hieß es, junge Geschlechter wuchsen heran. Es war schon richtig so, daß die Alten weichen mußten. Und diesmal war halt er an der Reihe. Der Komet hatte ihm dies bedeutet.

Er ließ es sich von gutmeinenden Menschen nicht ausreden. Wunderlich wurde er, ganz starr beharrte er bei seiner Annahme, und wirklich, man hätte am Ende den Kopf geschüttelt, wenn er nicht doch recht behalten hätte, der gute, alte Heinrich Müller.

Selbst in der Schule hielt er nicht zurück mit seinen Mutmaßungen. Freilich, die wilden Buben lachten, das war ihnen ein Spaß, daß der alte Schulmeister so wundersame Reden führte. Sie bedachten es nicht, daß das Alter andere Gedankengänge wandelt. Und wenn er sterben mußte, nun gut, dann kam ein anderer Lehrer anher. Ob der auch so gut war? Hm, das war eine Frage, bei der sich schon etwas erwarten ließ. Der gute Müller war wohl so schnell nicht zu ersetzen. Fürwahr, er war zu schwach mit den Jungen, er hätte den Bakel öfters vorholen müssen. Aber es war schon so, ihm tat es weher als den Knaben, wenn er Schläge austeilen mußte. Da behalf er sich lieber mit der Güte. Und die Folge war, daß die Rangen nur noch mehr auf Dummheiten ausgingen. Vor allem der kleine Merten Stabel ließ es sich gern angelegen sein, den alten Schulmeister zu ärgern. Es war wohl nicht Bosheit, nur Übermut, jungenhafte Lebhaftigkeit. Er mußte sich halt betätigen, er konnte nicht Stunde um Stunde still sitzen und der Worte und Schriftzeichen des Lehrers achten. Nein, das lag dem Merten ganz und gar nicht. Und wenn er auch dafür mehr als die anderen gerügt wurde, ach, das glitt an ihm herab, das ging zu dem einen Ohre herein und zum anderen wieder heraus, vorausgesetzt, daß er sie sich gewaschen hatte, was leider auch nur selten geschah beim Mertel Stabel. Aber selbst dann wollte er es nicht hören, daß er ein nichtsnutziger Schlingel sei, der seinem alten Schulmeister das Leben nur noch schwerer machte. O, es war doch so wunderschön ein bißchen frech und keck zu sein! Und jeder, der ein rechter Junge gewesen, wird ihm hier zustimmen müssen. Nun kam es an dem Tage, da Heinrich Müller ganz besonders schwermütig war und seine Sinne nicht losbringen konnte vom Kometen und dessen Folgen, daß der Merten gleichfalls seinen grandigen Tag hatte. Dies äußerte sich allerdings etwas anders als beim Lehrer. Merten paßte nicht auf. Kein Scheltwort, kein Androhen irgendwelcher Strafe fruchtete, der Bub war und blieb ungezogen. Mag sein, daß die Sonnenstrahlen schuldig waren, die so hell in das kleine Fenster hinein lachten, oder der Fink, der draußen pfiff, kurzum, der Merten Stabel war mit all seinen Gedanken und Wünschen in Gottes freier Natur und ließ den Lehrer mit seiner Weisheit die anderen beglücken.

Aber auf die Dauer wird das selbst dem besten und gutmütigsten Menschen zu viel. Auch Müller zuckte zusammen und begann wirklich ernsthaft zu schimpfen. Schließlich war die Schule nicht da, um Träume zu pflegen und Dummheiten zu ersinnen, das Leben forderte so viel von einem Menschen, da konnte man gar nicht genug lernen und in sich aufnehmen.

„Bub, itzt bist achtsam, ansonsten werd‘ ich dich doch schlagen müssen!” Ganz fest und bestimmt sprach es der Schulmeister, man merkte, daß er nicht mit sich Scherz treiben lassen wollte. Gerade heute nicht, wo so schwere Dinge durch seinen Kopf zogen. Aber der Merten grinste gar hämisch und schien sich sehr wenig um die mahnenden Worte des Schulmeisters zu bekümmern. Das brachte den ansonsten so stillen Mann auf.

„Du, das ist Schluß itzt, einen Mucks hör ich noch, ich sinn, ich schlag dich einmal richtig, du ungezogener Bub!”

Merten mochte wohl nicht glauben, daß dies der Ernst sein könnte. Ach, der Herr Müller sprach oftmals so. Und er lachte weiter. Lachte sogar so laut los, daß die anderen Jungen beschämt die Köpfe senkten. Da sprang der alte Schulmeister vor, griff nach dem Buben, zog ihn zu sich heran, nahm mit der anderen Hand den Stock und hieb eins, zwei, drei auf den Merten ein. Aber plötzlich ließ er den Jungen los, seine Hand sank herab, er stöhnte schwer auf und fiel, zur größten Bestürzung seiner Schüler, hinten über. Plumps, da lag er auf der Erde, schrie laut auf und hielt sich die Seite. Merten sprang herzu, faßte sich schnell und eilte, ehe die anderen Jungen noch recht begriffen, davon, den Bader zu holen.

Als dieser würdige und gelahrte Mann kam, röchelte Müller nur noch leise. Die gewissenhafte Untersuchung ergab, daß der Schulmeister ein kleines Messerlein in der Seitentasche getragen, welches ihm bei der jähen Bewegung in den Leib gefahren. Ganz gefährlich war er verwundet. Die Knaben standen um ihn herum und machten betrübte Mienen. Merten, der Schuldige dabei, schluchzte laut auf. O, was hätte er dafür gegeben, wenn sein lieber, guter Lehrer jetzt noch gesund gewesen wäre. Der brave Heinrich Müller, solchen Schulmeister gab es nie wieder!

Männer kamen, den Verwundeten zu holen. Sie legten ihn fürsichtig auf eine mitgebrachte Bahre. Müller schrie auf: „Seht, der Komet, itzt ist mein seliges Stündlein da, ich geh von euch, lebt wohl!”

Merten Stabel weinte: „Meine Schuld, o, meine Schuld!” Da traf ihn ein unsäglich liebevoller und verzeihender Blick des alten Schulmeisters. „Laß das, Gott mag es so gewollt haben, sei nit gar so traurig, mein Junge, das wird alles, alles gut!”

Dann trugen sie ihn heim. Aber auf dem kurzen Wege schon verschied er. Fast die ganze Bürgerschaft ging mit im letzten Geleit. Herzzerbrechend schluchzten die Knaben, am meisten aber der kleine Merten, der die kleine Ursache zu der großen, bitteren Wirkung gewesen. Die Leute aber hatten mancherlei zu reden über den Schulmeister und den Kometen, über böse Buben und ein gottseliges Sterben.