Die politischen und kirchlichen Verhältnisse des mittleren Erzgebirges im Mittelalter.

Von Lic. Dr. Bönhoff, Annaberg.

Glückauf! Zeitschrift des Erzgebirgsvereins. 27. Jahrgang. No. 1. Januar 1907, S. 4 – 7.

Die nachstehenden Zeilen sollen sich mit der Erschließung des mittleren Erzgebirges beschäftigen. Es handelt sich hierbei in der Hauptsache um das ursprüngliche Urwaldgebiet unseres heimatlichen „Schwarzwaldes” oder, wie er in altsächsischer Mundart genannt ward, des Miriquidis. Dieser Name taucht übrigens ganz selten auf. Urkundlich wird er, soviel bis jetzt bekannt geworden ist, nur zweimal überhaupt erwähnt. Das eine Mal erscheint er in einer Urkunde Kaiser Ottos II. vom Jahre 974. Darnach erhielt der Bischof von Merseburg das Recht der hohen Jagd auf das Wild, welches in seinen Forsten in den Burgwardbezirken von Rochlitz und Titibutzien (auf dem Lastauer Burgberge) umherschweife, sowie auf dasjenige, welches aus dem großen Walde namens Miriquido herüberwechsle. Wir haben ihn also darnach in südöstlicher Richtung von Rochlitz, etwa zwischen Flöha und Würschnitz, zu suchen. Das andere Mal berichtet uns Bischof Thietmar von Merseburg, wie Kaiser Heinrich II. im August des Jahres 1004 nach Böhmen zog, welches der Polenherzog Boleslaw Chrobry besetzt hielt, trotzdem letzterer ihm den Einmarsch durch Besetzung des Berges im Walde Miriquidi zu verwehren gesucht hatte. Allein Heinrich war auf neugebahnten Wegen, wahrscheinlich über den Paß von Reitzenhain, bis nach Saaz vorgedrungen. Wir haben aber noch ein Mittel, das Gebiet dieses ausgedehnten Waldes, der im Süden an Böhmen stieß, einigermaßen auch nach den anderen Himmelsrichtungen hin abzugrenzen.

Es sind die sorbischen Gaue, welche mit ihren Waldungen an den Saum des Miriquidi heranreichen. Wir folgen ihren natürlich nur annäherungsweise bestimmbaren Grenzläufen, soweit sie für uns in Betracht kommen. Dabei darf ein Umstand nicht übergangen werden. Bekanntlich zerfielen die sorbischen Gaue unter deutscher Verwaltung in lauter mehr oder weniger umfangreiche Burgwardbezirke, eine politische Gestaltung, die der Eroberer wohl bereits vorfand und seinen Zwecken dienstbar machte. So grenzten denn an den Miriquidi im Osten der Gau Daleminzi, im Norden der Gau Chutizi, im Westen die Gaue Plisni und Zwiccowe. Betrachten wir sie im einzelnen! Für den Daleminziergau schlagen hier folgende Angaben ein. Seine südlichsten Burgwardbezirke nach Westen zu waren Döbeln und Hwoznie, (auf dem Treppenhauer bei Sachsenburg). Dieselben schenkte einst 981 Kaiser Otto II. dem Kloster Memleben. Als sich dasselbe nicht halten konnte, ward es der mächtigen Abtei Hersfeld im Hessenlande einverleibt. Daher kommt es, daß die meißnischen Markgrafen und sächsischen Kurfürsten wettinischen Stammes als Lehnsträger von Hersfeld, sobald es ihnen beliebte und förderlich war, erscheinen. Der älteste urkundliche Beleg hierfür rührt aus dem Jahre 1292 (Juli 23.) her. In diesem Dokumente, welches für Friedrich den Freidigen ausgestellt ward, ist eine Grenzbeschreibung enthalten, die wenigstens 10, wenn nicht gar 200 Jahre älter als dasselbe ist. Mit einem Worte: sie umschreibt den Umfang jener beiden Burgwarde. Für uns ist daraus folgender Abschnitt bemerkenswert, daß nämlich der Hersfelder Landbesitz sich erstreckte „die Zschopau hinauf bis zur alten böhmischen Straße, welche das Gebiet (der Klöster) Chemnitz und Hersfeld trenne, und längs dieser Straße bis zur Pockau, die Pockau (die Vereinigte und die Rote) hinauf bis Nidperg (Neideck), welches Abt Wernher gebaut hatte, und von dem Wasser, welches vor Nidperg vorbeifließt (Schwarze Pockau), bis zum Striegiswasser”. Dieser Grenzstrich, die Westgrenze des Burgwards Hwoznie, findet noch eine Erläuterung dadurch, daß 1292 innerhalb desselben Lichtenwalde samt seinen Dörfern sowie Zschopau mit seinem ganzen Zubehör lagen. Die alte böhmische Straße, die über Chemnitz-Zschopau-Zöblitz führte, zog sich demnach am Ostsaume des Miriquidi hin. Derselbe lief nach dem linken Ufer der Flöha zu aus und erstreckte sich über die Zschopau nach dem Zwönitztale hin. Auf dem rechten Ufer der Chemnitz treffen wir mithin noch den Daleminziergau an. Das stimmt aber trefflich zu Bischof Thietmars Angabe, daß sich diese Landschaft von Westen nach Osten zu von der Chemnitz ab (d. h. von de Stücke ihres Laufes, das von Einsiedel bis Garnsdorf mißt) bis an die Elbe ausdehne. An der Grenze des Gaues tauchen auch slavische Namen auf, wie Glösa (verschieden gedeutet), Gablenz (Apfelbaumort, mhd. Affalter), Chemnitz (Steinicht), Beuthenberg, Gornau (Bergort), Wilischbach (wölfischer, d. h. wilder Bach), Zschopau, Laute, Wüstenschletta (Sletin) bei Marienberg (Sumpfort) und Zöblitz.

Auch über die Südgrenze des Chutizigaues, soweit sie uns hier angeht, sind wir genügend unterrichtet. Die Zschopau von ihrer Mündung bis nach Mittweida (Bärenort), woselbst sie die Wrosinitza, den Altmittweidaer Bach, aufnahm bildete nebst derselben bis zu ihrer Quelle eine Scheide zwischen Daleminzi und Chutizi. Ferner lief die Gaugrenze von der Quelle des letztgenannten Baches zu derjenigen der Claußnitz, begleitete diese bis zu ihrer Mündung in die Chemnitz, die Chemnitz bis zu ihrem Einflusse in die Zwickauer Mulde. Dann ging es stromauf bis oberhalb von Penig etwa in die Gegend von Wolkenburg. Doch ist es nicht unmöglich, daß die Grenze vom Einflusse der Claußnitz in die Chemnitz auf deren linkes Ufer übersprang und etwa über Taura (deutsch: Auerswald), Elzing (Erlicht), Mühlau (Liebenau) und Tauscha (Feste) auf die Mulde bei Zinnberg hineilte. Unweit der Gaugrenze lag etwas nördlicher der südlichste Burgward im östlichen Chutizi, nämlich Rochlitz. Denn die Dörfer zwischen Chemnitz, Wiederau, Claußnitz und Wrosinitza lagen laut urkundlicher Bezeugung vom Jahre 1174 auf neu gerodetem Boden, während die alten slavischen Orte erst links der Wiederau im weitausgedehnten Kirchspiele Seelitz ihren Anfang nahmen.

In der Gegend von Waldenburg zwischen Remse und Wolkenburg befinden wir uns im Gaue Plisni. Denn laut einer Urkunde König Konrads III. vom Jahre 1143 lagen die 100 Königshufen, welche er dem Benediktinerkloster Bürgel überwies, und die den Grundstock des Besitzes der Nonnen zu Remse darstellten, rechts und links der Mulde „im Königswalde zu Pleißen”. Also über die Mulde hinaus griff dieser Gau, den ebenfalls, wie wir bald sehen werden, eine böhmische Straße vom Miriquidi schied. Ein Gleiches gilt vom benachbarten Gau, der südlich vom Plisnigau liegt, dem Gau Zwiccowe. Hier besitzen wir noch die Grenzangaben, welche wir der vom 1. Mai 1118 herrührenden Dotationsurkunde für die Marienkirche zu Zwickau entnehmen dürfen. Der nördlichste Punkt des Gaues ist der Hügel „Weidmannssitz”, der am wahrscheinlichsten mit den „Steinfüchsen” bei dem Dorfe Mosel gleichgesetzt werden dürfte; im Osten grenzte der Mülsenbach in seiner gesamten Ausdehnung; im Süden gaben in vertikaler Richtung der Zusammenfluß der Mulde und des Schwarzwassers (Scurnice) sowie der Hügel Recina (zu Kirchberg) Marksteine des Grenzlaufes an. Längs des Oststriches des Gaues Zwiccowe zieht sich nun eine böhmische Straße über Waldenburg, (Borens) Lugau, Oelsnitz, Beutha, Lößnitz nach Elterlein, das früher bekanntlich den Namen Quedlinburg geführt hat. Dann passiert sie die Rothe Pfütze und tritt damit in ein Gebiet ein, welches bis zum 15. Jahrhundert tschechischem Einflusse unterstand. Daher mehren sich auch die slavischen Namen. So führt die Straße über den Lauseberg, dann über Schlettau (Sumpf) und weiter nach Klein-Sehma (d. h. fester Boden), durch den Zschapelwald (Storchwald?), über Sehma und Rothensehma nach Preßnitz. Dieser ganze Straßenzug ließ den Miriquidi zu seiner Rechten liegen, ebenso wie auch längs seines Ostsaumes eine böhmische Straße sich hinzog. Beide Wege vermieden das Urwaldgebiet.

Wir haben uns dasselbe als unbesiedelt vorzustellen. Nicht daß darin slavische Namen fehlten, aber sie hafteten an keinem einzigen Orte, soweit derselbe nicht etwa von dem vorüber- oder durchfließenden Wasser einen solchen empfangen hat, sondern lediglich an den Läufen der Flüsse und Bäche. Da stoßen wir auf die Preßnitz (Birkenbach), die Pöhla (Weißbach) und das Pöhlwasser, die Chemnitz (Steinbach), die Würschnitz (mhd. Klaffenbach = Rauschwasser) und die Zschopau. Letzterer Name scheint aber ebenso wie derjenige der Flöha (vergl. Flevis) von de Sorben übernommen und slavisiert worden zu sein. Preßnitz, Pöhla, Pöhlwasser und Würschnitz haben den Namen an ihrer Quelle, d. h. in Böhmen erhalten. Die Sehma empfing ihn erst von dem gleichnamigen Orte, nicht minder auch die Zwönitz, die ja vordem Chemnitz hieß, was noch das unterhalb von Niederzwönitz gelegene Dorfchemnitz deutlich beweist. Übrigens erhielt die Chemnitz bis zu ihrer Quelle bei Zwönitz den Namen von der Mündung her. Das ist auch bei der Zschopau anzunehmen. Denn dafür sprechen zwei Umstände. Noch in einem Schiede über Bergreviere vom Jahre 1529 finden wir die Preßnitz als Zschopau bezeichnet, weil man eben stromauf kam und deshalb im Unklaren war, ob dieselbe die Zschopau oder nur einer ihrer Nebenflüsse sei. Darauf wäre man an der Quelle der Preßnitz nimmer verfallen. Ferner sind erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Gelehrten darüber einig geworden, das „Wiesener Wasser” und weiter hinauf den „Schladenbach” als Zschopau zu benamsen. So bedeckte denn der Miriquidi das Gebiet der Amtshauptmannschaft Annaberg und den Westen der Amtshauptmannschaften Chemnitz und Marienberg. Es darf als sicher betrachtet werden, daß dieser große und ausgedehnte Waldkomplex erst mit dem Beginn des 13. Jahrhunderts besiedelt wurde. Wenn man auch den „Beweis aus dem Stillschweigen” nicht pressen darf und will, so ist doch wohl ein solches über jede Niederlassung im Miriquidi überzeugend. Zudem ist zu bedenken, wann die ihm benachbarten Gegenden besiedelt worden sind. Chemnitz wurde im Jahre 1137 gegründet. Die Umgebung von Remse war 1143 noch nicht, aber bereits vor 1165 der Kultur erschlossen. Im 12. Jahrhundert hat Kloster Hersfeld im Burgward Hwoznie sich kolonisatorisch betätigt. Lichtenstein erscheint bereits 1213, Stollberg 1222 urkundlich. Die Gründung des Augustinerchorherrenstiftes zu Zelle (bei Aue) erfolgte 1173, diejenige des Cisterzienserklosters Grünhain 1235. Eine notwendige Voraussetzung hierfür war die wirtschaftliche Eröffnung der betreffenden Gegend. So erfahren wir denn auch, daß Markgraf Otto von Meißen, Graf Meinher von Werben (bei Zeitz) und Dudo von Mynime (Meineweh bei Werben) 60 Hufen Neubruchland zur Ausstattung für Zelle dem Kaiser Friedrich I. aufließen. Wer hat nun die Rodung des Miriquidis in die Hand genommen?

Es wird sich erst verlohnen, zu fragen, welche politischen Gebilde rechts und links desselben sich gebildet hatten und dem Forscher mittelalterlicher Geschichte aufstoßen. Im Tale der Flöha begegnen wir bis zum Jahre 1234 den Herrschaften Lauterstein, Rauenstein und Schellenberg (Augustusburg) in den Händen eines nach letzterem Schlosse benannten Reichsministerialengeschlechtes, welches durch Kaiser Ludwig den Bayern wegen Raubfehden, besonders gegen das Kloster Altzelle, in die Reichsacht erklärt ward und seiner Besitzungen verlustig ging. Die Wettiner übernahmen dieselben, verwandelten Schellenberg in ein markgräfliches Amt und verliehen Rauenstein an die Edlen von Waldenburg, Lauterstein an den Peniger Zweig der Burggrafen von Leisnig. Zschopau erscheint 1286 als Schloß und Stadt Heinrichs des Erlauchten, der es am 7. September seinem Enkel Friedrich dem Freidigen verschreibt, dessen Sohn es an die Edlen von Waldenburg verlehnte. Die Liegenschaften der berühmten Benediktinerabtei Chemnitz erstreckten sich bereits am Ende des 12. Jahrhunderts vor allem südlich von der gleichnamigen Stadt jenseits der Würschnitz. Am linken Rande des Miriquidis treffen wir die in Schönburgischen Händen befindlichen Schlösser Glauchau und Lichtenstein. Jenes, ein Reichslehn, trugen sie Karl IV. für die Krone von Böhmen auf; dieses, welches Friedrich II. 1213 dem König Ottokar von Böhmen geschenkt hatte, nahmen sie von diesem zu Lehhen, wenn nicht der Kaiser sie als seine Ministerialen jenem Herrscher bereits überwies.Südlich von Lichtenstein in südöstlicher Richtung dehnte sich die Grafschaft Hartenstein aus, deren Mittelstück, die Umgebung des Grünhainer Klosters, und deren oberer Teil sich dicht am Miriquidi hin erstreckte. Wir finden mit ihr seitens des Reiches die Burggrafen von Meißen belehnt. Grünhain war ihr Hauskloster, Lößnitz ihre Residenz im Erzgebirge. Erst spät, ganz spät entstanden in dem oberwäldischen Teile ihrer Herrschaft, als diese längst an die Herren von Schönburg übergegangen war, zwei Städte, nämlich 1522 Scheibenberg und 1526 (Ober-) Wiesenthal. Östlich an diesen oberwäldischen Teil der Hartensteiner Grafschaft stieß die Herrschaft Schlettau, welche sich von ihrem ersten urkundlichen Auftreten (1351) an unter böhmischer Lehnshoheit befunden hat, und zwar als Besitz der Edlen von Schönburg aus der Hassensteiner Linie, welche sich desselben im Jahre 1413 an das Kloster Grünhain kaufweise entäußerten.

Zwischen diesen Bezirken – auf der einen Seite den Herrschaften Lauterstein, Rauenstein, Schellenberg und Zschopau sowie dem Chemnitzer Klosterlande, auf der anderen Seite den Herrschaften Glauchau, Lichtenstein und Schlettau sowie der oberen und niederen Grafschaft Hartenstein einschließlich des Grünhainer Klosterlandes zwischen Zschopau und Schwarzwasser – breitet sich nun das erschlossene Miriquidiland aus. Wer hat es erschlossen? Es scheinen vor allem zwei Herrengeschlechter daran beteiligt zu sein: die von Stollberg und die von Waldenburg. Die ersteren haben von Westen her die Täler der Zwönitz und der Würschnitz besiedelt. Denn zu dem Stollberger Schloßbezirke gehörten von alters her die Orte Ober-, Mittel- und Niederdorf, Ober- und Niederwürschnitz, Erlbach, Thalheim, Gornsdorf, Auerbach, Günsdorf, Hormersdorf, Dorfchemnitz, Niederzwönitz, Gablenz und Brünlos; ja auch Kirchberg, das zu den Küchendörfern der Grünhainer Abtei zählte, hat ursprünglich gewiß einen Bestandteil der Stollberger Herrschaft gebildet. Lange freilich haben sich die gleichnamigen Edlen in der neuerschlossenen Gegend nicht zu halten vermocht.

(Fortsetzung folgt.)