Weihnachten im Gebirge.

Von Chr. Klötzer.

Wie unergründlich ist doch der Zauber, den das Weihnachtsfest auf das Menschenherz ausübt. In früher Jugend nimmt er es gefangen, und am Abend des Lebens noch senkt er sich in jeder heiligen Nacht hernieder, nicht bloß Erinnerungen weckend an die längstvergangene Kindheit, sondern den Greis selbst noch mit kindlicher Freude erfüllend. Ja er ist unergründlich dieser Zauber! Und am wenigsten sind es reiche Geschenke, die ihn geweckt, denn sonst möchten ihn wohl manche nicht fühlen, die am meisten in seinem Banne stehen. Eine wundersame Poesie rauscht durch die heilige Nacht und der rauheste Mensch fühlt ihre Schwingen; aber kein Wort erschöpft sie und kein Lied singt sie aus! Und so faßt sie auch mich jede Weihnacht wieder mit Allgewalt, so weit auch die eigene Kindheit hinter mir liegt, — und an der Freude der Kinder rankt sich die Erinnerung an die ferne Zeit empor, wo Ruprecht und Christkind auch mir in die Welt der Erscheinungen traten. Aber wie ganz anders war jene Zeit! Jetzt umfängt mich die große Stadt; noch bis spät in den heiligen Abend hinein wogt das geschäftige Treiben auf Markt und Gassen, und der heilige Frieden der geweihten Nacht senkt sich erst spät hernieder. Da muß der Weihnachtszauber seine Probe bestehen, und er hat sie bestanden durch alle die Zeiten, er lebt und webt noch in mir, dem Manne, wie er das Kindesherz dereinst erfaßt, er lebt, denn er ist göttlichen Ursprungs! Aber ein wenig poetischer, dünkt mich, sei die Weihnachtszeit doch noch gewesen damals in dem vom großen Treiben der Welt noch weit abgelegenen Dorfe des Obererzgebirges, damals, als in dem stillen Thale der Mulde noch kein Schienenstrang neben dem gefrorenen Flusse dahinlief, noch kein Fabrikschlot über die beschneiten Gipfel der Tannenbäume sah. Wie waren wir arm und doch so reich, wenn die Adventzeit kam. Da war mit dem Schnee, der da oben ja nie auf sich warten läßt, auch die ächte, rechte Weihnachtsstimmung gekommen! Und eines Abends war auch Ruprecht da und pochte ans Fenster unseres Häuschens just da, wo der Vater vergessen hatte, den alten, wettergebräunten Laden zu schließen. Mutter öffnete die kleine Scheibe, eine sonderbare Stimmung frug nach unserer seitherigen Aufführung, und dann flogen zehn Nüsse herein, für fünf Geschwister je zwei, die sie sich jubelvoll suchten und dann der alten Tante zeigten, die bei dem großen Ereignisse seltsamerweise nie zugegen war. Und eines Abends, wenn sie alle zusammensaßen und fleißig arbeiteten um das tägliche Brot, da ließ sich die Mutter erbitten und stimmte ein altes Adventslied an: „Sehet auf, denn der Herr wird bald kommen und alle seine Heiligen mit ihm!” Zweistimmig sangen wir mit — ach und es mag wahrlich nicht so schön geklungen haben, wie eine Motette — aber uns zog mit dem alten, vertrauten Klange die selige Weihnachtsahnung ins Herz. Und eines Tages dann sahen wir auch die langen Rockschöße des alten, teuren Kantors fliegen, wie er die Dorfstraße entlang eilte und sich die Musikanten für seine Weihnachtsmusik in den Christmetten zusammen bat. Am schulfreien Sonnabends-Nachmittag probten sie dann auf den leeren Schulbänken und wir, die Stimmbegabtesten des Dorfes, sangen unser „Oratorium” von alten, vergilbten Notenblättern — ach, es mögen wohl oft entsetzliche Töne gewesen sein, die der alte Hornist, seines Zeichens ein Schreiner, dem buckelreichen Instrumente entlockte, und wohlgerechtfertigt mag des milden Cantors Mahnung an den Bassisten gewesen sein, hier und da einen halben Ton höher zu greifen — — aber es war uns doch die himmlischste Musik, es war ja die Weihnachtsmusik! In der Nachbarschaft aber hatte der Dorfschmied ein Werk der bildenden Kunst in die schwielige Hand genommen: er baute und klebte eine Darstellung der ganzen Lebens- und Leidensgeschichte des Heilandes mit beweglichen Figuren nach der Art der bekannten Bergwerke. Du lieber Himmel! Wie mochte die derbe Faust des Schmiedes dazu kommen, am Abende, wenn sie den schweren Hammer weggelegt, mit Goldpapier und allerlei zerbrechlichem Krame zu hantieren? Wir legten uns die Frage nicht vor; dem Schmied stak eben die Weihnachtspoesie in allen Gliedern, und irgendwo mußte sie doch hervorkommen. Sein Ehegespons brummte zwar ein wenig über das Heidengeld, das der „Narr” da reinsteckte, aber im Uebrigen sah sie mit wohlgefälliger Miene das Kunstwerk wachsen und Neugierige dasselbe bewundern, und im übrigen hatte der Schmied an den Eingange zur Krippe einen Engel mit mächtigem Klingelbeutel gestellt, der von dem Beschauer einen Obolus heischte. Der Klingelbeutel füllte sich zusehends und wurde dem Engel just zu schwer — — aber das Kupfergeld galt damals noch etwas, — der Schmied kam nicht sonderlich auf die Kosten, aber das hat er ja auch gar nicht gewollt! Und endlich wenige Tage vor dem Feste holten auch wir die althergebrachten Weihnachtsherrlichkeiten vom Boden herunter. Der Weihnachtsbaum gehörte dazu nicht; nur wenige Familien im Orte zündeten sich einen Weihnachtsbaum an, und wir bemitleideten die Kinder, die nichts weiter als einen solchen Baum hatten. Die Tannenbäume sahen wir am liebsten im nahen Walde und fanden sie dort ohne Lichter am schönsten. Uns war ein Paradiesgarten und ein alter Kronleuchter der Inbegriff aller Weihnachtswonne und Seligkeit. Gewöhnlich war ein solcher „Paradiesgarten” so geformt, daß er in eine Stubenecke paßte, und dort kam auch der unsere hin. Ein grüner Zaun umgab das Gärtlein, dessen hölzerner Boden mit Moos belegt war und in welchem die bekannten Spielschachtelbäumchen standen. Im Moose weidete der Schäfer seine weiße Herde, und im Hintergrunde war die heilige Familie in der Krippe versammelt. Wenn wir das viele Jahre alte Bret herunterholten, geschah es in unbeabsichtigtem Festzuge: die Mutter leuchtete, der Vater trug es bedächtig, und die Kinder zogen mit den übrigen Herrlichkeiten hinterdrein. Der Aelteste trug den „Kronleuchter” mit freudigem Stolze. Wenn ich heute in den großen Schauläden der Stadt seine schöneren Kollegen, funkelnd in tausend Lichtstrahlen, betrachte, denke ich immer auch in Treue meines alten heimatlichen Kronleuchters oder „Mettenleuchters”, wie er genannt wurde. Ein kunstvoll gedrechselter Holzkörper, die „Docke” genannt, ein großer eiserner Reifen, daran zu befestigen, zwölf eiserne Arme und ebenso viel zur einen Hälfte mit rotgefärbtem Wasser und zur anderen mit Rüböl gefüllte Glaskugeln mit einem kleinen Brenndochte: das war Alles! Und doch, wenn er brannte, welch‘ eine Lichterfülle! Unser lustiger Zeisig an der Wand glaubte bei dem Lichtglanze immer, es sei Morgen und begann emsig sein Futternäpfchen an der Kette heraufzuziehen, das er erst vor zwei Stunden leergefressen hatte. Ja, das kam von den zwölf Oellämpchen! — —

Und endlich hatte der liebe heilige Abend ein Einsehen gehabt und war gekommen. Keine Schule drohte uns, und der Vater durfte auch tagsüber nicht arbeiten. — Das wäre uns als eine Entweihung erschienen. Die besten Schütten Stroh aus dem Wintervorrat wurden hervorgeholt, auf die blankgescheuerte Diele der Wohnstube ausgebreitet und diese selbst damit zu einer Krippe gestaltet. Rümpfe man darüber nicht die Nase, es war ein alter Brauch und — in den Feiertagen hatte selbst die alte frostige Base warme Füße! Uns galt das Stroh als unveräußerliches weihnachtliches Recht; es gehörte zum Feste so gut wie unser alter Paradiesgarten. — Die Bude des Lichtziehers mit den buntbemalten Lichtern der Christmetten erfreute sich unter allen Christmarktdingen unserer liebevollsten Aufmerksamkeit. Der Christmarkt währte übrigens nur einen Tag und ging mit einbrechender Dunkelheit zu Ende. Dann wurde es stille, und das Christkind durfte kein Kind mehr auf der Straße treffen. Wir saßen zusammen und flüsterten leise, als seien wir in der Kirche. Die Mutter aber hatte viel zu schaffen, denn „Neunerlei” galt es heute zu kochen, braten, backen und brauen. Neunerlei! Das war freilich kein „Souper mit neun Gängen”, aber ein Braten und die bekannten grünen Klöse kamen heute auf den Tisch! Der blankgeputzte Messingleuchter bekam nur einmal im ganzen Jahr eine Talgkerze zu sehen, sonst herrschte die Rüböllampe; Petroleumlampen waren noch unbekannt. Zum heiligen Abend aber ward ein Talglicht angebrannt. Wir kannten den Grund schon: es stirbt sonst jemand im Hause. Alle hatten wirs geglaubt, und immer hatte die Weihnachtskerze gebrannt, aber eines Tages trugen sie doch Großvater und wieder an einem andern die Großmutter hinaus — die Kerze hatte es nicht gehindert. — Nun fiel aus dem Nachbarhause schon der erste Lichtstrahl, und andachtsvoll sahen wir den Vater auch die kleinen Lichter unseres Paradiesgärtchens und die zwölf Lämpchen des „Mettenleuchters” entzünden, die nur mit viel Geduld zu einem gleichmäßigen Leuchten zu bringen waren. In dieser verschwenderischen Lichtfülle aber nahmen wir das alte vergriffene Gesangbuch zur Hand und sangen das Lied: „Vom Himmel hoch da komm ich her!” Und dann setzten wir uns um den Tisch und aßen und tranken seelenvergnügt das „Neunerlei” der guten Mutter, ohne uns doch im Mindesten den Magen zu verderben. Und nachdem die „Tafel” beendet und das Brot in ein weißes Tuch geschlagen wieder auf dem Tische lag, wo es in dieser heiligen Nacht liegen blieb, auf daß uns im kommenden Jahre das tägliche Brot nicht ausgehe, ging die „Christbescherung” vor sich. Wenn jemals an die Menge und an die Kostbarkeit der Gaben die Weihnachtsfreude gebunden wäre, wahrlich, dann wäre sie uns kärglich zugemessen gewesen, — aber an den warmen Filzschuhen oder dem wollenen Shawl und an dem Spiel für zwei „gute Groschen”, die uns das Christkind brachte, freuten wir uns vielleicht mehr, als unsere mit Gaben überschütteten Kinder. Wie strahlten die Augen, als der schöne bunte Shawl sich um den Hals schlang, gleich jetzt, um damit einen Schritt in die stille Nacht hinaus vor unsere Thüre zu thun. Kein Wort und kein Schritt unterbrach die heilige Stille; in dieser Stunde waren sie alle daheim, alle! In die dunkle Nacht und auf die schneebedeckten Wege fiel hier und da ein heller Lichtstreifen der Weihnachtslichter, und dunkel ragte vor uns die schlanke Spitze des Kirchturmes auf und wies zum Himmel empor, von dem hernieder das Heil dieser Nacht uns kommen sollte. Vom Berge herab dröhnte ein Schuß, — altem Brauch zuliebe, dann wurde es wieder still ringsumher, und ich meinte die rauschenden Flügelschläge der Engel zu hören, die ausgesendet waren, des Heilands Geburt zu verkünden. Und endlich ließen wir uns mahnen, des Schlafes Frieden zu suchen und versprachen der alten Tante, auf unsere Träume wohl acht zu haben, da sie unzweifelhaft in Erfüllung gehen mußten. Du lieber Himmel! Die Alte hatte wohl jeden Morgen nach den 12 heiligen Nächten einen vielgestaltigen und weitgesponnenen Traum zu erzählen, — wir aber hatten immer gar nichts geträumt und wunderten uns darob, da wir noch nicht wußten, daß die Jugend selbst nur ein schöner Traum ist! Ruhig und fest schliefen wir unter dem alten Schindeldach, das schon mehr Weihnachten erlebt hatte, als wir, und manchmal ein Bischen Schnee durch seine Fugen stäuben ließ. Aber in dieser Nacht währte die Ruhe nicht lang. Noch war es nicht 4 Uhr, da kamen die Bewohner des Dorfes, das seine Häusergruppen auf alle Höhen und in alle Thalsenkungen hinauf und hineinschiebt, auf knarrendem Schnee dahergeschritten, um die „Metten” nicht zu versäumen, die um ½6 Uhr begann. Mit Laternen und Lichtern und fröhlichem Geplauder strebten sie der Kirche zu; wir hörten sie vorüberziehen und durch das halbblinde Dachfensterchen fiel ab und zu ein Lichtstrahl der Laternen in die Stockfinsternis unserer Schlafkammer. Dann riefen die Glocken vom Turme zum erstenmal, und nun rüsteten auch wir uns, groß und klein, zur Christmetten, die uns als der herrlichste Gottesdienst im ganzen Jahre erschien. Im Glanze von Hunderten von Lichtern stand das ehrwürdige Gotteshaus, und seine hohen Spitzbogenfenster leuchteten weit ins nächtliche Dunkel. „Gerade feuergefährlich sind die vielen Lichter!” sagte der Schlosser, der die Ortsfeuerspritze befehligte — aber es glaubt’s ihm niemand. Wenn eine Schnuppe von den qualmenden Lichtern herabfällt auf die hölzerne Empore, tritt sie ein schwerer Fuß aus, und die alte Kirchenchronik weiß auch wohl von Kirchenraub und Brand in den Zeitläuften des dreißigjährigen Krieges zu erzählen, aber von einem Brande durch Christmettenlichter nichts! — — Auf dem Chore der Kirche umringten wir Sänger und Musikanten unseren geliebten Cantor und bewunderten zunächst seinen Taktierstock mit dem Perlmutterknopfe, der uns im ganzen Jahr nur dies eine Mal sichtbar wurde. Dann sang eine helle Sopranstimme, ein wenig vor Kälte und ein wenig vor Befangenheit zitternd, die „Weissagung des Propheten” mit leiser Orgelbegleitung, und endlich durchwogten die feierlich-ernsten Klänge unserer „Kirchenmusik” den Kopf an Kopf gedrängten Tempel. Wie mag sie wohl dem kunstgeübten Ohre unseres Cantors selbst geklungen haben? „Wir Künstler” waren entzückt von unserer Leistung und entrüstet über des giftigen Dorfbarbiers Behauptung, daß es „nicht gestimmt” habe. Und als wir dann heimkehrten, ein Bischeen erfroren und ein Bischen verhungert, dann leuchteten wieder rings aus allen Häusern die Lichter der Paradiesgärtlein und Kronleuchter und warfen ihre hellen Strahlen auf den hartgetretenen Schnee der Dorfstraße.

Vom Kirchturme herab aber geleiteten uns die Posaunentöne eines Chorals, den die alten wackeren Dorfmusikanten mit Eifer geübt und einstudiert hatten. Sie thaten’s um ein Gotteslohn und freuten sich ihres Vollbringens; auch in ihren biederen Herzen lebte und webte der alte Weihnachtszauber. Auch unseres Kronleuchters freundliche Lichter grüßten die Heimkehrenden, bis vor dem erwachenden Tage die gelben Flämmchen verbleichten. Dann war es mir, als zöge mit den Rauchwölkchen der verlöschenden Lichter auch das beste Teil des unnennbaren Weihnachtszaubers mit hinaus in die kalte Morgenluft, — die heilige Nacht war vergangen, Christ war geboren! Sein Heil aber blieb uns; mit hellen fröhlichen Augen sah ich den heiligen Christtag heraufziehen, und immer wieder klangen durch meine Seele die Freudenrufe der himmlischen Heerschaaren: Ehre sei Gott in der Höhe! Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!

Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 9. Jg. Nr. 11 u. 12, v. November und Dezember 1889, S. 115 – 117.