Die höchsten Wohnstätten des Erzgebirges.

Wenn die höchsten Ansiedelungen wagmutiger Menschen auf unwirtlichen Gebirgshöhen, ähnlich wie die unter dem Pole benachbarten Breiten, naturgemäß allgemeine Teilnahme erregen, so verdient unser Sachsenland ganz besondere Beachtung. Denn nicht nur gehören die höchsten Wohnstätten unseres Erzgebirges zu den höchsten Deutschlands, ja ganz Europas, sondern dies Gebirge ist auch überhaupt das in allen Höhenlagen am stärksten bevölkerte Deutschlands. Es ist bekannt, daß bisher die Sonnenwirbelhäuser am Keilberge auf böhmischem Gebiet (1154 m) die höchsten immerbewohnten menschlichen Wohnstätten des Erzgebirges waren, ebenso, daß das „Neue Haus” am Fichtelberge (1080 m) die entsprechende Stelle auf sächsischem Boden einnahm, während ganz neuerdings wenigstens für die gute Jahreszeit das „Gasthaus auf dem Fichtelberge” (1213 m) unbestritten obenan steht, und daß endlich Oberwiesenthal die höchste „Stadt” (913 m) Sachsens und Deutschlands ist. Dazu muß freilich angemerkt werden, daß der alte Begriff „Stadt” seine frühere Bedeutung verloren hat und jetzt manches Dorf viel mehr städtischen Charakter hat, als ehemals mit städtischer Verfassung begabte Orte. Deshalb läßt auch jetzt die Statistik diese beiden historischen Begriffe fallen und unterscheidet lieber geschlossene menschliche Wohnorte über und unter 2000 Einwohnern.

Weniger bekannt als die oben erwähnten Punkte sind die übrigen höchsten Ortschaften des sächsischen Erzgebirges, und deshalb mögen dieselben hier mit einigen Bemerkungen über ihre Verhältnisse und Bewohner zusammengestellt werden, wobei wir vieles Wichtige der neuerdings erschienenen trefflichen Abhandlung von Dr. Johannes Burgkhardt „Das Erzgebirge, eine orometrisch-anthropogeographische Studie” entnehmen.

Burgkhardt berechnet die mittlere Kammhöhe des Erzgebirges auf 844,24 m und die Zahl der Menschen jenseits dieser Kammhöhe auf 23 608 oder 1,77 % aller Gebirgsbewohner, und die der Ortschaften in gleicher Höhe auf 40 oder 3,31 % aller Wohnplätze derselben. Schon mit diesen Procentsätzen ist das Erzgebirge, soweit der Vergleich möglich ist, wohl allen anderen Gebirgen, z. B. Thüringer- und Schwarzwald, überlegen.

Höhenstufen unterscheidet man am Erzgebirge am besten 10, wovon jede den Flächenraum innerhalb einer Erhebung von 100 m umfaßt, und zwar die niederste zwischen der Isohypse (Linie, welche Punkte gleicher Höhe verbindet) von 200 m und 300 m über dem Meeresspiegel, die höchste zwischen 1100 m und 1200 m. Unter diesen 10 Stufen lassen sich 5 obere und 5 untere annehmen. Die letzteren, d. i, der Kranz des Gebirgslandes unterhalb der 700 m-Linie, stehen an Dichte der Bevölkerung, 482,82 Bewohner auf den qkm, in Berücksichtigung der Höhe unerreicht da. Der merkwürdigste Ort, der aus diesem Gebiet der fünf unteren Höhenschichten hervorgehoben zu werden verdient, ist unsere Bergstadt Annaberg. Sie nimmt ihrer Höhe, Lage und Größe nach eine ganz eigenartige Stellung nicht nur im Vaterlande, sondern auf der ganzen Erde ein. Weder Harz noch Riesengebirge, Ardennen oder Kjölen, noch der Ural mit seinen Bergwerkstädten haben nach den Versicherungen der Geographen eine Stadt aufzuweisen, die nur annähernd mit Annaberg verglichen werden könnte.

Jenseits der 700 m-Linie erfolgt eine plötzliche Abnahme in der Bevölkerung des Erzgebirges; für diese obere Hälfte beträgt die Bevölkerungsdichtheit 45,30 Einwohner auf den qkm, welche aber immer noch die von Mecklenburg-Schwerin (43) übertrifft. Die obere Hälfte zur unteren verhält sich hinsichtlich der Dichte der Bevölkerung wie 1 : 9,11 in Bezug auf den Flächenraum wie 1 : 3,6. Zwischen 700 m und 800 m ist die Zahl der Ortschaften immerhin noch so beträchtlich, daß es nicht angebracht ist, sie alle einzeln anzuführen. In der Amtshauptmannschaft Oelsnitz — wir lassen somit die westliche Grenze des Erzgebirges mit Burgkhardt bis zur Elster reichen — liegt noch die größere Hälfte der Stadt Schöneck auf dieser Stufe, deren vornehmster Industriezweig die Instrumentenfabrikation ist. Weiterhin folgt in der Amtshauptmannschaft Schwarzenberg Johanngeorgenstadt mit 4801 Einwohnern. Die Gründung erfolgte bekanntlich durch böhmische Exulanten; den Unterhalt bot lange der Bergbau, der jedoch gegenwärtig die Einwohner nicht mehr ernähren kann; sie haben ihre Zuflucht zur Hausindustrie nehmen müssen und beuten die Torflager der Umgegend aus. In der Amtshauptmannschaft Annaberg finden wir Jöhstadt auf dieser Stufe, wo besonders Galanteriewaren, Spitzen und künstliche Blumen gefertigt werden. Dagegen ist Altenberg im östlichen Teile des Erzgebirges (747 m hoch) immer noch von den Zinnbergwerken am Abhange des Geisingbergs abhängig und mit der Ausbeute der letzteren ist auch die Blüte der Stadt gesunken.

Spärlicher werden die Ortschaften schon zwischen 800 bis 900 m. In der Amtshauptmannschaft Auerbach bewohnen 165 Menschen die beiden kleinen Dörfer Mühlleiten und Winselburg an den Quellen der Zwickauer Mulde zwischen Schneckenstein und Rammelsberg, denen gegenüber auf der Südostseite des Gebirges in gleicher Höhe noch Aschberg liegt. Die Amtshauptmannschaft Schwarzenberg ist noch mit einigen hundert Einwohnern vertreten, darunter zum Teil die Bewohner des großen Dorfes Karlsfeld, welches durch seine frühere Turm- und Wanduhrenfabrikation bekannt wurde, seine Entstehung aber den von dem Schneeberger Schnorr angelegten Eisenwerken verdankte. In der Amtshauptmannschaft Annaberg haben wir Unterwiesenthal, das mit einigen Häusern aber schon in die nächste Höhenstufe reicht, und Hammerunterwiesenthal, in der Amtshauptmannstadt Marienberg das Dorf Satzung mit 1434 Einwohnern. In allen letztgenannten Orten ist an die Stelle der ursprünglichen Beschäftigung beim Bergbau jetzt die Hausindustrie getreten, besonders die Herstellung von Posamenten und Spitzen. Weiter nach Osten zu, wo die Höhe des Erzgebirges ja an sich abnimmt, finden sich Orte jenseits der 800 m-Linie auf sächsischem Gebiete nicht mehr.

Über 900 m hinaus versteigen sich menschliche Wohnstätten nur im mittelsten Teile des Gebirges, in den Amtshauptmannschaften Schwarzenberg und Annaberg. Hier ist die „wilde Ecke” des Ganzen, wo die mittlere Kammhöhe 951 m beträgt, wo sich die höchsten Gipfel erheben, wo noch dichte, zusammenhängende Wälder sich ausbreiten, von Torfmooren umsäumt, wo die Thäler eng werden und der Boden karg. Bis zur Höhenlinie von 1000 m wohnen noch im Ganzen 4967 Menschen, davon aber in der westlichen Amtshauptmannschaft nur 11 Sachsen, nämlich in Henneberg, südöstlich von Johanngeorgenstadt, zur Gemeinde Jugel gehörig. Im östlichen Bezirke liegt die schon erwähnte höchste sächsische und deutsche „Stadt” Oberwiesenthal (nebst einigen Häusern von Unterwiesenthal), die jedoch nicht zugleich die höchste Stadt des Erzgebirges überhaupt ist; denn die benachbarte böhmische Stadt Gottesgab übertrifft sie noch um 100 m. In gleicher Höhe mit Oberwiesenthal liegen außerdem die beträchtlichen böhmischen Orte Stolzenhan und Wiesenthal. Ebenfalls erwähnt war schon, daß bisher die höchsten dauernd bewohnten Wohnstätten die Sonnenwirbelhäuser und in Sachsen das „Neue Haus” am Fichtelberge waren, daß aber jetzt der Besitzer des letzteren sich nicht mehr dürfte, sich, wie ehemals geschehen, dem vorüberfahrenden Könige als sein allerhöchste Unterthan vorzustellen; sondern daß der Bewohner des Fichtelberghauses ihm jetzt „über” ist.

Die Kargheit der Natur auf diesen Höhen läßt sich aus folgenden Erscheinungen ermessen, welche man an der Pflanzenwelt beobachtet hat: Die Blütezeit der Pflanzen tritt in Oberwiesenthal im Durchschnitte 25 Tage, in Jugel bei Johanngeorgenstadt aber 30 Tage später ein als in Leipzig, z. B. die der Kartoffel erst Ende Juli, statt Ende Juni. Entsprechend zeitiger tritt die winterliche Kälte ein. Nur bei günstiger Witterung reifen Hafer und Kartoffel jenseits der 1000 m-Linie, Gemüse wächst dort nicht mehr, nur an einigen Vogel-Kirschbäumen reifen noch die Früchte. Der Landbau lohnt natürlich in solchen Höhen dem Menschen nicht mehr; die Verfertigung von Spitzen, Posamentierwaren, Stecknadel- und Zündholzfabrikation, Gorlnäherei u. s. w. gewähren den Lebensunterhalt.

Daß die höchsten Ortschaften, wenigstens jenseits der 800 m-Linie, ausschließlich von Deutschen, nicht schon von Slaven, begründet worden sind, weshalb sie auch ausschließlich deutsche Namen (mit Ausnahme von Jugel ?) tragen, können wir uns nicht als besonderes Verdienst anrechnen; teils zwang die Not, nachdem das niedere Land übervölkert war, dazu, teils und zumeist lockte der Segen des Bergbaus zur Ansiedlung. Wohl aber ist es ein rühmliches Zeichen von dem zähen, arbeitsamen Wesen der Gebirgsbewohner und ihrer Liebe zum väterlichen Boden, daß sie, auch nach dem Verlust der verhältnismäßig oft lohnenden Arbeit beim Bergbau, doch zumeist in den alten Orten seßhaft blieben und neue Erwerbsquellen zu finden wußten, sei es auch in viel mühseliger und undankbarer Beschäftigung.

Von dem wüsten aufregenden Treiben einer Großstadt, wo der gemeine Mann, um nur einen erbärmlichen Teil von dem allgemeinen Genußleben um ihn her zu erhaschen, in Höhlen voller Elend, Laster und Verbrechen haust, man man wohl gern den Blick zu unseren rauhen und kargen Höhen der Berge erheben. Nicht minder hart, härter vielleicht ist hier der Kampf ums Dasein, aber statt zu entnerven und zu verderben, stählt und sittlicht er den Menschen und statt des wilden Genusses gewährt er dem wackeren Kämpfer inneren Frieden; hat er doch in der dürftigen Hütte am Rande des Moores oder des Hochwaldes noch ein eigenes Heim und bleibt näher dem Himmel, auch seinem Gotte näher, als jene da unten.

Quelle: Glückauf! Organ des Erzgebirgsvereins. 9. Jg. Nr. 10 v. Oktober 1889, S. 93 – 95.