Erzgebirgisches Sonntagsblatt 120. Jahrgang, Nr. 46, 14. November 1926, S. 6
(8. Fortsetzung.)
Ein besonders großer Anziehungspunkt war für mich das alte, an der Stadtmauer errichtete und mehr einer großen Scheune gleichende, in meiner lebhaften Phantasie mit aller Romantik ausgestattete Stadttheater. Mein größter Wunsch war, da einmal hineinzukommen. Aber wie? Von zu Hause aus war dies ausgeschlossen. Mit meinen 12 Jahren war ich noch viel zu jung dazu. Ein Schulkamerad, der mein Anliegen kannte, sagte mir eines Tages, daß im Stadttheater zu der und der Vorstellung Gewehre gebraucht würden, und wer ein solches bringe, für den Abend freien Eintritt habe. Diese günstige Gelegenheit durfte ich mir nicht entgehen lassen. Wußte ich doch, daß mein Vater, der früher der Kommunalgarde angehörte, in der Dachkammer noch ein Gewehr mit einem Feuersteinschloß liegen hatte. An dem bestimmten Theaterabend, es war an einem hellen Sommertag, da die Tage noch lange waren, holte ich verstohlen das Gewehr vom Boden und lief damit, dasselbe wagerecht in der Hand haltend (nicht geschultert, denn sonst wäre ich möglicherweise arretiert worden!) siegesbewußt von der Kleinen Kartengasse durch das jedem Ortskundigen bekannte und einen klassischen Namen führende Gäßchen nach und über den Markt hinunter ins Theater, wo ich mein Gewehr abgab und das Theater betreten durfte. Was ich damals gesehen habe, weiß ich nicht mehr. Aber ich fühle heute noch, wenn ich daran denke, die Freude, die ich bei meinem ersten Theaterbesuch empfunden habe. Als ich älter geworden war, d. h. so 17 Jahre zählte, ging ich dann schon öfter, aber ohne Gewehr, ins Theater, wenn auch nur auf den Platz, den man als „Olymp“ bezeichnet. In Annaberg hieß er anders. Aber einerlei, ich war doch im Theater.
Von den damals gespielten Theaterstücken sind mir nur noch einige bekannt geblieben, wie das rührselige: „Der Müller und sein Kind“, sodann „Maurer und Schlosser“, „Der Glöckner von Notre-Dame“, „Cora, die Tochter des Pflanzers“.
Aus dieser Zeit erinnere ich mich noch einer Vorstellung, nämlich der des Schauspiels „Die Waise von Lowod“, in der die Titelrolle von der bei den Annabergern sehr geschätzten und beliebten jugendlichen Schauspielerin Neyer dargestellt wurde. In ihren späteren Jahren heiratete Frl. Neyer einen Schauspieler Wunderlich, der dann eine Reihe von Jahren Direktor des Zwickauer Stadttheaters war. Nach dessen Tode wurde ihr die Leitung desselben Stadttheaters übertragen. Aus der naiven sylphidenhaften „Waise von Lowod“ war eine erfahrene, tüchtige und energische Direktorin geworden, die sich um das Zwickauer Stadttheater sehr verdient gemacht hat. Seit ungefähr 25 Jahren hat sie ihre letzte Ruhestätte auf dem Zwickauer Friedhofe gefunden. Ihre Grabstätte bezeichnet ein von ihren zwei hinterlassenen Söhnen gesetzter Gedenkstein.
Wenn man 18 Jahre alt geworden ist, fängt man an, ans Tanzen zu denken. Ich trat im Jahre 1866 einem von dem Turnlehrer Vogelsang alljährlich veranstalteten Tanzkursus bei. Das Honorar betrug 4 Thaler. Die Tanzstunden fanden im kleinen Museumssaale statt. Orchester: 1 Violine. Gelehrt wurden: das zierliche Menuett, Kontre, Quadrille, Walzer, Polka, Galopp u. a. Unter den jungen Damen befanden sich auch mehrere, die aus Buchholz kamen. Zuschauer und Kritikerinnen, wie solche bei den Tanzstunden jetzt zu finden sind, gab es damals noch nicht. Als wir im Tanzen flügge geworden waren, machten die ehem. Scholaren und Scholarinnen nun auch den richtigen praktischen Gebrauch damit und gingen bisweilen Sonntags zu Ball in das Erbgericht Sehma. Wenn ich heutigen Tages mir einmal beikommen lasse, einen sogenannten Ball mit anzusehen, so überkommt mich ein gelindes Grauen, wenn ich von dem jungen Volke die neuzeitlichen Tänze ausgeführt sehe. Etwas Oederes und Langweiligeres, als wie das sinnlose am Platze Hin- und Herschieben, das man Tanzen nennt, kann ich mir nicht denken. Der schönste Tanz ist und bleibt doch der Walzer.
Die Annaberger Posamentenindustrie, rühmlichst bekannt in der ganzen Welt, hat, veranlaßt durch die wechselnden Kleidungsmoden in der Frauenwelt, mancherlei Wandlungen durchmachen müssen. Aber immer hat sie es verstanden, sich der Mode anzupassen, und ist mit ihren künstlerischen Erzeugnissen auf der Höhe geblieben. Zum Lobe der erzgebirgischen überaus tätigen und fleißigen weiblichen Bevölkerung muß es gesagt werden, daß diese in der Herstellung der vielfach verschiedenen Posamentenarbeiten durch frühzeitige Uebung und forterbend von Geschlecht zu Geschlecht eine große Fertigkeit erlangt hat, die von anderen dieser Industrie Fernstehenden nicht so leicht ausgeführt werden kann.
Annaberger Krinolinenfabriken.
(Aus alten Lithographien von Julius Wagner)
In den 1860er Jahren blühte die Chenille-Fabrikation und dann kam das große Ereignis der Mode, die „Krinoline“, deren Herstellung von den Amerikanern Thomson und Nettleton hier eingeführt wurde.
An der Talstraße, in der Nähe des Emilienberges, und vor dem Böhmischen Tore waren Fabriken, barackenähnlich aus Holz errichtet, die Tausende von Frauen und Mädchen beschäftigten. Zur Erinnerung an diese Mode und Zeit hängt nur noch eine Krinoline im Altertumsmuseum.
Die Trachten, wie sie um die Jahre 1855 und später bestanden haben, kann man häufig noch in alten Zeitschriften sehen. (Nr. 16 und 21 des I. E. S. enthalten interessante Trachtenbilder aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts.)
Die Männer trugen an Sonntagen lange, schwarze oder dunkelblaue Röcke, hochstehende Vatermörder und um den Hals meist ein schwarzseidenes Halstuch, das vorn zu einem Knoten verschlungen wurde.
Bei den Frauen war das Lieblingsgewand ein türkisches Schaltuch, dessen hintenherabhängende Ecke ziemlich den Boden erreichte. So ein Umschlagetuch kostete aber in guter Ausführung 40 bis 50 Taler. Auf dem Kopfe trugen Frauen und auch Mädchen Strohhüte, die den ganzen Kopf einhüllten, sogenannte Schebhüte, an denen vorn lange seidene Bänder angebracht waren, die unter dem Kinn zu einer eleganten Schleife geschlungen wurden. Die Kleider, die vielfach mit Falbeln belegt waren, trugen reichen Posamenten- und Perlenbesatz.
Mit uns Jungen wurden nicht viel Umstände gemacht, wir bekamen einfach aus alten getragenen Kleidungsstücken neue! Hierzu kam die berühmte gestrickte, schirmlose Kopfhülle (also weder Hut noch Mütze) mit dem darauf als einzigen Schmuck anzusehenden Knopf. Das war alles.