Erinnerungen und Betrachtungen eines alten Annabergers (8).

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 120. Jahrgang, Nr. 45, 7. November 1926, S. 6

(7. Fortsetzung.)

Woher die Kurrendaner, die ja noch eine kleine Kopfform besaßen, ihre Zylinderhüte bezogen hatten, weiß ich heute nicht mehr. Nur so viel weiß ich, daß es keine neuen, sondern getragene Hüte waren, die vielleicht schon einige Jahre hindurch verschiedenen Besitzern angehört haben mögen. Die Beerdigungszeit war wahrscheinlich in Rücksicht auf die Alumnen und die Kurrendaner, die doch vor- und nachmittags an ihre Schulstunden gebunden waren, hauptsächlich auf die Mittagsstunde gelegt worden. An Sonn- und Feiertagen lag es den Kurrendanern ob, in der Kirche die Nummern der Gesangbuchlieder an den Tafeln aufzustecken und während des Gottesdienstes auf dem Chor mitzusingen. An jedem Sonntag hatten ja auch die Kurrendaner bei ihren „Kunden“ zu singen. Je nach der Jahreszeit wurde von uns aus die Stunde bestimmt, zu welcher ein jeder sich Sonntags früh vor dem Rathause einzufinden hatte. Im Sommer war dies um 5 Uhr. Für jede Minute des Zuspätkommens war eine an sich kleine Geldstrafe festgesetzt. Alle hatten aber das Bestreben, im Dienst auf Pünktlichkeit und Ordnung zu halten. Das Sonntags-Frühsingen war für uns Kurrendaner der angenehmste und schönste Teil des Dienstes. So bei früher Morgenstunde, da noch tiefe Stille in den Gassen herrschte, vor den Häusern mit unseren frischen Stimmen singen zu können, war uns selbst ein großer Genuß.

Bei der ziemlich großen Zahl unserer Kunden, die uns in alle Stadtteile führten, mußten wir uns tüchtig dazu halten, um bis zum Beginn des Gottesdienstes fertig zu sein. Häufig kam es auch vor, daß wir zu Geburtstagen oder am Hochzeitsmorgen eines jungen Paares zum Singen bestellt wurden. Unsere Hauptleistung im ganzen Jahre war aber das seit alters her bestehende Neujahrssingen vor den Häusern der Stadt und denen des zur Kirchengemeinde Annaberg gehörigen Dorfes Frohnau. Was wir alles hierbei geerntet haben, ist mir nicht mehr bekannt. Uebermäßig kann es nicht gewesen sein. Der mehrfach schon genannte Geh. Rat Reiche-Eisenstuck, ein Menschenfreund im wahrsten Sinne des Wortes, spendete uns stets zu Neujahr 1 Taler. Aus einer alten Stiftung erhielten wir alljährlich zu Weihnachten durch Glasermeister Runge (stiftungsgemäß) je 2 leinene Hemden. (Natürlich alle nach einem Schnitt.) Aus einer anderen alten Stiftung erhielten wir allwöchentlich ein kleines Brot, das in der Laux’schen Bäckerei an der Annenkirche abgegeben wurde, für das wir uns aber, des Genusses halber, meist Kuchen nahmen. Als ich dieses Jahr bei Gelegenheit der großen Deutschen Autofahrt die Lauxsche Bäckerei aufsuchte, fand ich alles noch so wie in meiner Jugendzeit. Der Eingang, das Schiebefenster und der Verkaufsraum, alles war noch dasselbe. Und doch waren darüber fast 65 Jahre vergangen.

Mit Bedauern habe ich vernommen, daß das Sonntagssingen aufgegeben worden sei, und zwar, wie mir ein Kurrendaner sagte, „der Kälte im Winter wegen“. Das scheint mir aber kein glaubhafter Grund gewesen zu sein, da die Winter vor 60 Jahren härter und länger als die jetzigen waren.

Welchen Anklang das Singen der Kurrendaner an den Sonntagen gefunden hatte, habe ich vor mehreren Jahren bei einer Eisenbahnfahrt von Chemnitz nach Dresden erfahren. Da saßen vier, anscheinend Handwerksmeister, in meinem Wagenabteil zusammen und sprachen über ihre Wandererlebnisse in den verschiedenen Städten Deutschlands. Es wurde da über manches gesprochen, was ich mir nicht gemerkt habe. Aber eines ist mir doch im Gedächtnis geblieben. Einer erzählte, daß er auf seiner Wanderschaft auch nach Annaberg gekommen und da längere Zeit geblieben sei. „Er vergesse nicht, wie da an den Sonntagen früh so schön die Schüler gesungen hätten.“ Dabei leuchtete sein Auge und ich fühlte, daß ihm dies alles in schöner Erinnerung geblieben war. Viele der in meiner Kurrendanerzeit von uns gesungenen Gesangbuchlieder habe ich noch heute im Gedächtnis. Sie sind mir in meinem langen Leben in allen Nöten, die keinem Menschen erspart bleiben, immer ein fester Halt und Trost geblieben. Daß ich das Singen nach Beendigung meiner Kurrendanerzeit nicht aufgegeben habe, wird einleuchten. Mein Sopran hatte sich mit den Jahren in einen annehmbaren Bariton verwandelt. Mit 20 Jahren trat ich in meiner zweiten größeren Heimatstadt einem Männergesangverein bei, dem ich, das sei nur nebenbei gesagt, später mehrere Jahre als Vorsitzender und seit fast 10 Jahren, wenn auch nicht mehr aktiv, als Ehrenmitglied angehöre.

In unserer jetzigen, ganz anders geformten Zeit haben viele von der männlichen Jugend keine Zeit mehr für die schönen Künste, wie Musik und Gsang, und für die Lektüre unserer großen Dichter und Denker. Denn der Sport, so löblich dieser auch ist, füllt bei übermäßigem Betrieb, dem sich viele hingeben, fast die ganze freie Zeit aus.

Denkmünze aus Blei an den Besuch der Sängerschaft Paulus-Leipzig in Annaberg im August 1862.
(Nach einem uns zur Verfügung gestellten Original.)

In meinen Kurrendanerjahren muß es gewesen sein, als der „Universitätssängerverein Paulus“ aus Leipzig nach Annaberg kam. Ich sehe noch heute die prächtige Sängerschaar mit ihren zwei blauweißen Fahnen, voran das Stadtmusikchor und begleitet von einer freudigen Volksmenge, die Buchholzer Straße hereinziehen. Die Sänger gaben ja ein Konzert in der St. Annenkirche und in den Museumssälen. (Bei dieser Gelegenheit möchte ich nicht unerwähnt lassen, daß mir später selbst das Glück zu teil wurde, einen musik- und sangesfreudigen Sohn zu besitzen, der als Studio auch ein begeisterter „Pauliner“ war, und durch den mir und meiner Frau die große Freude zu teil wurde, an der glanzvollen Feier des 75jährigen Jubelfestes des Universitätssängervereins „Paulus“ in Leipzig im Jahre 1897 mit teilnehmen zu können.)

Die Anwesenheit der berühmten Sängerschaft und ihres hochverehrten Dirigenten, des Professors Dr. Langer, in Annaberg hat in mir noch eine kleine Episode bewahrt.

An einem der Besuchstage nahmen eine Anzahl Annaberger Herren mit den Paulinern und Prof. Dr. Langer auf dem Markt vor dem Museum den Kaffee ein. Da kam das Gespräch auf die über die in der Richtung der Großen Kirchgasse zu sich auffällig am Himmel bewegenden grauen Rauchwolken, die von dem kurz zuvor stattgefundenen großen Oberwiesenthaler Stadtbrande herrührten. Da ergriff ein Annaberger Herr, der neben dem Professor Dr. Langer saß, dessen neben sich gelegten weißen Lederhandschuhe, hielt sie empor und nachdem er in einer herzlichen Ansprache der Oberwiesenthaler Brandkalamitosen gedachte, versteigerte er, jedenfalls mit Genehmigung des Eigentümers, an den Meistbietenden die Handschuhe zum Besten der Kalamitosen. Es erfolgte ein lebhaftes Bieten und bei 10 Talern Höchstgebot erfolgte der Zuschlag. Das waren überhaupt die Jahre, in denen eine ganze Anzahl erzgebirgische und vogtländische Städte durch große Brände heimgesucht wurden. Als an einem Abend Geyer von einem Brande heimgesucht wurde, konnte man das Flammenmeer sogar von der Kartengasse aus beobachten.

Ich erinnere mich auch des Tages, da die Stadt Oelsnitz i. V. abbrannte. An diesem Tage hielt gerade die Weber-Innung ihre Quartalsversammlung bei ihrem Obermeister Heeger in dessen oberhalb der Buchholzer Straße gelegenen zwar kleinem, aber schön gelegenen Hause ab, wozu ich von meinem Vetter auch mitgenommen wurde, d. h. aber, ich und die anderen Jungen saßen da nicht etwa an der Meistertafel, sondern wir vetrieben uns die Zeit außen herum und erschienen nur ab und zu hinter den Stühlen unserer Angehörigen, um mal einen Schluck Bier oder, was das Begehrteste war, ein Knackwürstchen zu erlangen. An diesem Nachmittage kam die Nachricht nach Annaberg: die Stadt Oelsnitz i. V. brennt. Und richtig, von der Straße aus sah man in der Richtung nach Scheibenberg zu am Himmel die aufsteigenden Rauchwolken.

(Fortsetzung folgt.)