(4. Fortsetzung.)
Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 42, 17. Oktober 1926, S. 6
Die Verkehrsverhältnisse waren bis vor Eröffnung der Annaberg—Chemnitzer und der Annaberg—Schwarzenberger Eisenbahn sehr beschränkt. Das war noch die Zeit, in der das Posthorn seine alten, lieben Weisen über Berg und Tal erklingen ließ. Das Postamt, das sich damals in der Buchholzer Gasse befand, konnte nicht primitiver sein. Innerhalb des stets geöffneten Torweges spielte sich der ganze Verkehr ab. Im Winter, wenn der Sturm den Schnee durch das Tor peitschte und man an dem kleinen Schalter wie die Schwalbe an der Mauer hing, da war man froh, wenn man diesen Ort bald wieder verlassen konnte.
Ein Verwandter, der damals in Leipzig war und alljährlich einmal mit der Post nach Annaberg fuhr, brauchte dazu 15 Stunden. Früh gegen 7 Uhr fuhr er von Leipzig ab und kam abends gegen 10 Uhr in Annaberg vor dem Postamte an. Ach, wie oft habe ich da den Kondukteur (bekannt geblieben ist mir Finsterbusch, ein untersetzter, jovialer Herr), wenn er aus seinem Abteil herunterstieg, um seine schönen Fahrten, die ihm so gar nichts kosteten, beneidet. Solche Anschauungen ändern sich aber mit den Jahren.
Besondere, mir unvergeßliche Tage waren, da die Nachricht nach Annaberg kam, daß der Bau der Chemnitz—Annaberger Eisenbahn geehmigt sei, und der 1. Februar 1866, da der erste Eisenbahnzug von Chemnitz unter dem Jubel der auf allen Seiten der Bahnstrecke, am Stadtberg und den gegenüberliegenden Bergen aufgestellten großen Volksmenge mit 2 Lokomotiven in den Bahnhof einfuhr. Nun war endlich der von der Stadt Annaberg langersehnte und erkämpfte Anschluß an den Weltverkehr erfolgt.
Bei dieser Gelegenheit wollte man zugleich auch die zwischen der Annaberger und Buchholzer Jugend von lange her bestehenden Zwistigkeiten und Händel beseitigen. Man stellte zu diesem Zwecke zwischen den beiderseitigen Stadtgrenzen auf freiem Felde bei dem Steinbruche ein großes Transparent mit der Inschrift auf:
Es lebe die Eintracht
Annaberg und Buchholz!
Ob dieser gute Vorschlag gleich auf beiden Seiten Anklang gefunden hat, ist mir nicht bekannt geworden.
In demselben Jahre, 1866, zog sich ein schweres Kriegsgewitter zusammen.
Der Krieg zwischen Preußen und Oesterreich entstand. Da Sachsen auf Oesterreichs Seite sich befand, erklärte Preußen an Sachsen am 17. Juni den Krieg. In den nachfolgenden Tagen kamen von Chemnitz und aus dem ganzen Zschopautale in Scharen junge Leute, die von dort geflohen waren, in die Amtshauptmannschaft und suchten da Schutz, weil das Gerücht verbreitet war, daß die Preußen für ihr Militär auch Sachsen ausheben wollten. Der Amtshauptmann von Einsiedel, der damals auch die Chemnitzer Amtshauptmannschaft interimistisch zu verwalten hatte, beruhigte aber die Leute, da an dem Gerüchte nichts Wahres war.
Ich selbst war in den Jahren 1863—1867 ein junger Expedient in der Annaberger Amtshauptmannschaft (siehe Bild und Artikel auf Seite 7 dieser Nummer. Die Red.), deren Expedition damals in dem Zürcher’schen Hause im linksseitigen Erdgeschoß vor dem Wolkensteiner Tore lag. (Jetzt ist ein Zigarrengeschäft darin.)
Ich sah von da aus auch eines Tages, wie die ersten feindlichen Soldaten, eine preußische Reiterpatrouille, mit vorgehaltenen Karabinern die Wolkensteiner Gasse hereinsprengten. Bald traf auch Infanterie ein, die die hinter dem Rathause gelegene Wache bezogen. Abends stand ich oft, wenn der Zapfenstreich erklang, an der Wache. Die Soldaten, die damals auf Wache lagen, waren meist ältere preußische Landwehrleute. Und wenn dann das Kommando erschallte: „Helm ab und zum Gebet“, und die Landwehrleute still ihre Helme vor dem Gesicht hielten, da dachte ich manchmal für mich, in diesem Augenblicke werden sie mit ihren Gedanken und ihrem Gebete daheim bei Weib und Kind weilen.
Zu Hause hatten wir als Einquartierung einen Hautboisten. Da wurde abends immer musiziert. Als das Militär eines Tages unter Begleitung einer großen Menge der Annaberger Einwohnerschaft abmarschierte, begleitete auch ich meinen Spielmann bis zum Weck’schen Gute an der Straße nach Schönfeld. Die Soldaten hatten sich durch ihr taktvolles und freundliches Auftreten bei der Einwohnerschaft beliebt gemacht.
Bei einem jeden Besuche meiner Heimatstadt wandere ich hinaus nach dem alten, weit und breit berühmten Friedhof.
Ehe ich aber meine Schritte vom Eingange ab weiter lenke, bleibe ich gern an der Hospitalkirche stehen und lasse das einzig schöne und erhebende Bild, das ich von hier aus bietet, in andachtsvoller Stimmung auf mich einwirken. Dort steht noch, wie in meiner Jugendzeit, die alte, seit Jahrhunderten im Frühjahr immer mit neuem Grün sich schmückende Auferstehungslinde und am Wege, wie in inniger Verbindung mit der Linde, das hohe Kreuz mit dem schmerzensvollen und doch verklärten edlen Antlitze des Heilandes. Und auf den Kreuzesstufeb sehe ich ringsherum in den verschiedensten Gefäßen Blumen, von der Rose bis zum einfachen Feldblümchen, die liebevolle Hände in treuem Gedenken an ihre heimgegangenen Lieben und an den Gekreuzigten aufgestellt haben. In meinem Inneren aber höre ich die Worte des Erlösers: „Selig sind die, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“
Da alle auf den Kreuzesstufen aufgestellten, mitunter kostbaren Blumenstöcke und Blumen der weiten Oeffentlichkeit preisgegeben sind, drängte sich mir die Frage auf, ob nicht auch hier, wie es ja leider anderwärts so oft geschieht, Blumendiebstähle stattfänden. Da erfuhr ich aber zu meiner freude, daß dies hier nicht der Fall sei. Diese Stätte sei für alle Menschen ein geweihter, heiliger Ort, man lege eher, ohne sonst einen äußerlichen Anlaß, ein Blumensträußchen auf diese Stufen nieder, als daß man eine Blume hier raube. Alle Achtung vor solch einem so tiefreligiösen und gemütvollen Volkssinn!
Neben dieser heiligen Stätte, in dessen Nähe auch das Grabmal der Wohltäterin des Erzgebirges „Barbara Uttmann“ steht, blicke ich noch, wie schon in meiner Jugendzeit, jedesmal mit innerer Bewegung auf die in ihrem Seelenschmerze vor einem Altar zusammengesunkene Frauengestalt. Dieses Grabmal ist in seiner Form und der Darstellung des Schmerzes und der Liebe eines der schönsten und eindruckvollsten des Friedhofs. Wie ich bei meinem letzten Dortsein im Monat August d. J. leider bemerkt habe, hat das Denkmal durch die Witterung sehr gelitten und viele Stellen, wie Kopf, Schultern usw., sind mit einem feinen Moos bedeckt. Die verehrte Friedhofsverwaltung würde sich ein besonderes Verdienst erwerben, wenn sie dieses Denkmal in ihre besondere Obhut nehmen würde.
Ueber den Annaberger Friedhof, seine Gründung, Erbbegräbnisse und deren Besitzer in den vergangenen Jahrhunderten, sowie über die einzelnen Grabstätten besitze ich ein für mich besonders wertvolles kleines Buch, weil darin auch die Grabstätte und die Inschrift des Grabmals meiner im Jahre 1850 im Alter von 30 Jahren verstorbenen lieben Mutter aufgeführt ist. (Ich war damals 2½ Jahre alt, habe also meine Mutter leider nicht kennen gelernt.)