Erinnerungen und Betrachtungen eines alten Annabergers (3).

(2. Fortsetzung)

Erzgebirgisches Sonntagsblatt 119. Jahrgang, Nr. 40, 3. Oktober 1926, S. 6

Der Gottesacker, der der heiligen Dreieinigkeit gewidmet war, war vom Jahre 1517 bis 1539 am Trinitatisfeste ein vielbesuchter Wallfahrtsort. Vom Jahre 1539 ab wurde, wie allgemein bekannt, das Trinitatisfest oder wie es jetzt heißt, die „Kät“ (vom Dreifaltigkätsfest abstammend) im evangelischen Sinne als Totenfeier begangen. Vor 70 Jahren, auf so lange zurück kann ich mich besinnen, wurde das Fest in sehr bescheidener Weise gefeiert. An der südlichen Seite des Friedhofes, von der Kirche ab bis an die Ecke am Gottesackertore waren kleine Stände mit Eßwaren errichtet. Die Geschmäcker waren damals noch nicht auf Schokolade und Pralines eingerichtet. Man begnügte sich mit „Fässel-“ und „Bierkuchen“, Mohnblättern, trockenen Korbpöklingen, Knackwürstchen, sauren Gurken und Kirschen, die damals nach Schock auf kleinen Holzmulden mit den Fingern einzeln abgezählt wurden. Das wird so ziemlich das Hauptsächlichste gewesen sein. Also luxuriös war die Sache nicht. Nun noch das Wichtigste. Ganz hinten in der Ecke stand eine bescheidene Reitschule, die durch Menschenhände gedreht werden mußte und ohne Boden war. Um auf ein Pferd zu kommen, mußte man sich einen Schwung geben. Auf der Spitze der Reitschule thronte ein kleines blaues Männchen, das sich ständig mit drehte. Alte Annaberger werden sich gewiß noch dieses, viele Jahre wiedergekehrten Anblicks erinnern. In späteren Jahren sah ich die kleine Reitschule mit dem Männchen, die für Annaberg doch zu dürftig geworden war, nochmals in einem erzgebirgischen Dorfe. Seitdem war sie verschwunden. Sie war auch zu altmodisch geworden. Als ich nach vielen Jahren die alte Kät, die sich immer weiter ausdehnte, wieder sah, konnte ich keinen rechten Gefallen mehr daran finden, sie war mir ihrer ursprünglichen Art zu sehr entrückt worden. Oder hat diese meine Ansicht ihren Grund vielleicht auch darin, daß ich wie die obenerwähnte alte Reitschule, nun auch altmodisch geworden bin? (Ueber die Annaberger „Kät“ s. a. Abbildung im Erzgeb. Sonntagsblatt Nr. 21 v. J. 1926).

Eines der schönsten Feste, das alle Kreise in seinen liebenswürdigen Bann zog, war das „Schulfest“, das zwei Tage dauerte und zu dem der Himmel immer das schönste Wetter gab. Eine Reihe von Jahren konnte das Fest nicht abgehalten werden, und erst im vorigen Jahre hat man es zur Freude der Schuljugend und deren Angehörigen wieder aufleben lassen.

Ein ganz besonderes Interesse brachte die Annaberger Jugend dem Vogelschießen der Schützengilde und dem sich daran anschließenden Herren- und Damenschießen der Armbrust- oder Bogenschützengesellschaft entgegen.

Die schweren Rüstungen, die vielfach mit wundervollen Elfenbeineinlagen ausgelegt waren, gehörten den betr. Gesellschaftsmitgliedern. Die Spannung der Rüstungen erfolgte durch einen besonderen Rüstungsspannmeister vermittelst einer kleinen Maschine. Die Bolzen waren ziemlich groß und mit einer scharfen eisernen Krone versehen. Eine Rüstung ist noch im Annaberger Altertumsmuseum aufbewahrt. In manchen alten Annaberger Patrizierfamilien werden solche Rüstungen noch als Andenken an die Vorfahren und an eine schöne Zeit aufbewahrt.

Zu diesem Vogelschießen erschien Anfangs der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts mehrmals die berühmte Kolter’sche Seilkünstlergesellschaft. Der alte Kolter, ein ehrwürdig aussehender, untersetzter Herr bestieg kein Seil mehr. Er erschien zu den Vorstellungen, und zwar im schwarzen Zylinder, schwarzer Kleidung und mit einem starken Spazierstock, auf dem eine große Goldkugel prangte. Das Geschäft, wenn man es so bezeichnen kann, führte seinen Schwiegersohn Weitzmann (?), ebenfalls ein verwogener Künstler, mit anderen fort. Kolter war seinerzeit einer der größten Seilkünstler. Die „Gartenlaube“ brachte seine Biographie und würdigte seine Kunst. Durch Freunde und Gönner fand er zuletzt Aufnahme im Johannishospital zu Leipzig. Dort ist er auch verstorben. (Näheres über die Kolter’sche Seiltänzergesellschaft siehe Erzgeb. Sonntagsblatt v. 1926, Nr. 25.)

Bei dem Herren- und Damenschießen sorgte der in der Annaberger Einwohnerschaft beliebte und hochangesehene Geh. Regierungsrat Reiche-Eisenstuck dafür, daß dabei auch die Annaberger Jugend nicht zu kurz wegkam. In den späteren Nachmittagsstunden ließ er ganze Körbe voll kleiner Bierkuchen, Knackwürstchen und Semmeln in den im Schießhause im 1. Stock gelegenen Saal bringen. Die Annaberger Jungens hatten eine feine Nase und harrten unten auf dem Grasplatze der kommenden Dinge. Jetzt wurden oben an mehreren Fenstern die Flügel geöffnet und nun begann, durch besondere Hilfskräfte unterstützt, ein Bombardement von Knackwürstchen usw. auf die untenstehende, die Hände in die Höhe reckende Jugend, das eine ziemliche Zeit andauerte. Ich habe dem nur von weitem zugesehen, wie sich die Jungens, umgeben von lachenden Zu8schauern, auf dem Platze hin und her wälzten.

Das war alles noch in der Zeit und bei derselben Gelegenheit, bei der man leicht ein Zehngroschenstück verdienen konnte. Das Geldstück lag nämlich in einer mit Syrup gefüllten Schüssel und mußte mit dem Munde ohne Zutun der Hände herausgeholt werden. Natürlich fanden sich da auch manchmal Jungen, die, wenn sie einmal mit dem Munde die Lage des Geldstückes ermittelt hatten, mit Schnelligkeit unter Zuhilfenahme einer Hand das Geldstück herausholten und ausrissen. So einen Flüchtling einzufangen, wäre eine schwierige Sache gewesen, und zwar des Syrups wegen.

Das alte Schießhaus mit seinen außen angebrachten jahrhundertealten großen Schützen-Scheiben und davor die alte Linde, um die sich eine erhöhte hölzerne Kolonnade zog, die aber vor vielen Jahren abgebrochen worden ist, war immer eine vielbesuchte Gaststätte und ist es auch heute noch. An das alte Schießhaus und seinen Vorplatz werden sich gewiß noch viele alte Annaberger und Annabergerinnen erinnern.

(Eine Ansicht hiervon aus alter Zeit bietet das Erzgeb. Sonntagsblatt v. J. 1926, Nr. 15.)

In guter Erinnerung ist mir noch die Annaberger Kommunalgarde geblieben, wenn sie vom Markte ab in militärischem Schritt und mit Marschmusik nach ihrem vor dem Geyersdorfer Tore gelegenen Exerzierplatz zog. Für uns Jungens war dies immer ein großes Vergnügen.

Bergkirche um 1860 aus einer alten Lithographie von Julius Wagner †.

Von allen Festen war aber doch der alljährlich, wohl am Tage Magdalena (22. Juli) stattgefundene Bergaufzug, das für Gemüt und Auge schönste und eindrucksvollste Fest. Es ist so fast an die 70 Jahre her, als ich kleiner Junge staunenden Auges erstmalig einen Bergaufzug erlebte. In geschlossenen Kolonnen kamen die Gewerkschaften in ihren verschiedenartigen Trachten (Häuer, Zimmerlinge, Schmiede, Schmelzer pp.) aus Frohnau, Kleinrückerswalde usw. hereingezogen und stellten sich auf dem Marktplatze auf. Die Reihen der Bergleute zogen sich vom „Hotel Museum“ bis zur Bergkirche, von da bis zum „Hotel Wilder Mann“ und endeten am Rathause. Nach der feierlichen Einholung der, beiläufig bemerkt, kostbaren Fahne vom Bergamte, schritt unter dem vollen Geläute der Glocken der St. Annenkirche der lange prächtige Zug in langsamem Marschtempo die Große Kirchgasse hinauf zur Annenkirche.

(Fortsetzung folgt.)