Von Walter Schellhas-Dresden.
Erzgebirgisches Sonntagsblatt 120. Jahrgang, Nr. 52, 26. Dezember 1926, S. 1
Selbst in der modernen Großstadt hat sich noch ein Rest von Poesie inmitten der tosenden Brandung ihrer Verkehrszentren für die abgehetzten und verängstigten Seelen erhalten: der Weihnachtsmarkt.
Dieses Stück alten Kleinstadtzaubers, jenes selige Paradies unserer Kleinen und Großen, hat sich in das laute Drängen und fliehende Hasten des modernen Alltags herüberzuretten gewußt.
Die Wiege unsrer heutigen volksmäßigen Weihnachtsfeier als eines wirklichen, abgegrenzten Familienfestes, das jedes Haus für sich im eigenen Schoße begeht, ist der deutsche Protestantismus des 16. Jahrhunderts. Damals entstand unsere weihnachtliche Kinderbescherung beim hellen Scheine der Weihnachtskerzen, die den eigentlichen Kern dieses Volksfestes zu bilden begann. Einen mehrtägigen Christmarkt im heutigen Sinne kannte man damals noch ebensowenig, wie den im strahlenden Lichterglanz leuchtenden Christbaum unserer Tage. Aus den alten süddeutschen Städten, z. B. Ulm, Augsburg u. a., des 15. Jahrhunderts ist uns das Bestehen eines mit der damaligen Sitte der Nikolausbescherung zusammenhängenden Nikolausmarktes (wie auch in Annaberg) bezeugt, zu dem gegen Ende des 17. Jahrhunderts infolge der Verschiebung der Nikolausbescherung (6. Dezember) auf Weihnachten (24. Dezember) ein Christmarkt hinzutrat (in Augsburg bestanden um die Mitte des 18. Jahrhunderts noch beide Märkte nebeneinander).
Der seit altersher in Dresden am Heiligen Abend abgehaltene Markt war sowohl seiner Entstehung wie seiner Dauer nach ein bloßer Wochenmarkt. Hauptgegenstand des Verkaufs waren dort die Christbrote oder „Striezel“ (stritzel, striezel=ursprünglich eine zylinder- oder wulstförmige Masse, dann ein Gebäck aus Butterteig in jener Form), deren Feilbietung auf mit Brettern belegten Handwagen erfolgte. Im 16. Jahrhundert erhielt dieser Markt die Bezeichnung „Striezelmontag“, woraus zu schließen ist, daß er nicht mehr am Heiligen Abend selbst, sondern am Montag vor dem Fest stattfand. Erst im 18. Jahrhundert wurde aus diesem eintägigen ein mehrtägiger Weihnachtsmarkt. — Ganz ähnlich ist die Geschichte des Freiberger Christmarktes. Den alten Innungsordnungen der Bäcker und Fleischer und den Ratsordnungen über den Marktverkehr zufolge war der am Heiligen Abend abgehaltene Markt ebenfalls nur ein gewöhnlicher Wochenmarkt. Jedoch durften an ihm wie zu den Sonnabendmärkten die auswärtigen Bäcker und Fleischer ihre Waren frei in der Stadt feilbieten, was ihnen sonst nur nach Erwerbung der Innungsmitgliedschaft gestattet war. Die Freiberger Marktmeister-Bestallung vom 9. Oktober 1601 erwähnt neben diesem Weihnachtsheiligabend-Markt, den Jahrmärkten und den Wochenmärkten (Mittwoch, Freitag und Sonnabend) noch je einen Markt zu Neujahr, Ostern und Pfingsten. Jener Weihnachtsmarkt war vor allem ein Brot- und Fleischmarkt, der eine ungeheure Nachfrage der städtischen Bevölkerung nach Lebensmitteln zu befriedigen hatte. In dem uns aus dem Mittelalter wiederholt verbürgten gewaltigen Nahrungsmittelkonsum zum Weihnachtsfest äußerte sich noch ein Rest jener großen, wochenlangen Schmausereien, die unsere germanischen Vorfahren zu ihrer mit Totenkultus und Seelenspeisung verbundenen heidnischen Neujahrsfeier in den heiligen Hainen hielten. Der mehrtägige Freiberger Christmarkt ist ebenso wie der Dresdens und anderer Städte eine Erscheinung viel jüngerer Zeit.
Die Stadt Nürnberg kann sich rühmen, den ältesten uns bekannten „Christkindlein-Marck“ zu besitzen (Ende des 17. Jahrhunderts). Ein Zeitgenosse teilt uns folgendes darüber mit: „Da ist nahezu der ganze Platz voll Holzbuden, die für die Zeit aufgebaut sind und in denen allerhand Waren, um ein Zitat zu gebrauchen, was nur zum Gebrauch und Vergnügen der Kinder, ja sogar der Erwachsenen vom Wunsche zu ersehnen und von der Phantasie zu ersinnen ist, zu verkaufen steht“. In Hamburg wurde der Weihnachtsmarkt mit erzbischöflicher Erlaubnis sogar in der Vorhalle und den Kreuzgängen des Domes abgehalten und erst nach dessen Abbruch auf freie Plätze der Stadt verlegt. Über den Christmarkt in Frankfurt a. M. berichtet Goethe in einem Briefe an Kestner am 25. Dezember 1772: „Als ich über den Markt ging und die vielen Lichter und Spielsachen sah, dacht ich an Euch und meine Bubens wie ihr ihnen kommen würdet, diesen Augenblick ein himmlischer Bote mit dem blauen Evangelio, und wie aufgerollt sie das Buch erbauen werde“. Aus einer kulturhistorisch höchst interessanten Schilderung des Leipziger Christmarktes vom Jahre 1785 sei hier nur ein kleiner Ausschnitt mitgeteilt: „Der Markt ist an diesen drei Abenden so voll Menschen, daß man kaum durch die Gänge kommen kann. Die Studenten machen dabei den größten Lärm. Es hängen sich acht bis zwölf aneinander, und wenn sie ein paar Frauenzimmer begegnen, so schließen sie enen Kreis um sie, daß selbige nicht mehr heraus können. Dabei treiben sie allerhand pöbelhafte Possen und lachen hinterher, als wenn sie etwas Schönes getan hätten. Einige von ihnen sind so unverschämt, daß sie sich kleine Trompeten von Holz kaufen, und jedem Frauenzimmer, bei dem sie vorbeigehen, ins Ohr blasen. Das nennen sie „Commerce.“ — Wer aber einen recht ausführlichen Christmarktsbericht lesen will, der greife zu Ludwig Tiecks Novelle: „Weihnachts-Abend“, in der der Verfasser seinen Gewährsmann „Medling ein geborner Berliner“ über den Berliner Weihnachtsmarkt um 1780—93 u. a. folgendes erzählen läßt: „… 14 Tage vor dem Feste begann der Aufbau, mit dem Neujahrstage war der Markt geschlossen, und die Woche vor der Weihnacht war eigentlich die Zeit, in welcher es auf diesem beschränkten Raum der Stadt am lebhaftesten herging und das Gedränge am größten war … Wurde man schon auf eigene, nicht unangenehme Weise betäubt von all dem Wirrsal des Spielzeugs, der Lichter und der vielfach schwatzenden Menge, so erhöhten dies noch durch Geschrei jene umwandelnden Verkäufer, die sich an keinen festen Platz binden mochten; diese drängen sich durch die dicksten Haufen und schreien, lärmen, lachen und pfeifen, indem es ihnen weit mehr um die Lust zu tun ist, als Geld zu lösen. Junge Burschen sind es, die unermüdet ein Viereckt von Pappe umschwingen, welches, an einem Stecken von Pferdehaar befestigt, ein seltsam lautes Brummen hervorbringt, wozu die Schelme laut: „Waldteufel kauft“ schreien.“ —
Jene Zeit, also ausgehende 18. Jahrhundert, müssen wir im allgemeinen als den Höhepunkt des Christmarktes, als eine Art Volksfest ansehen. Das Aufkommen und der rasche Aufschwung prachtvoller Ladengeschäfte im 19. Jahrhundert lockte die Kauf- und Schaulustigen weg von der primitiven Budenstadt zu den schon damals oft mit Pomp und Geschmack dekorierten Auslagefenstern. Daß aber trotz dieser Einbuße an Anziehungskraft und Ausdehnung durch die starke Konkurrenz der Läden die Christmärkte im Leben der Städte bis auf den heutigen Tag ihre Existenz behauptet haben, muß uns mit Freude erfüllen, denn es dürften wohl nur wenige sein, die das bunte Bild des alten Christmarktes in der winterlichen deutschen Stadtheimat missen möchten, dieses traute und gemütvolle poesiedurchwehte Bild, wie es zahlreiche gottbegnadete Künstler mit Stift oder Pinsel so eindrucksvoll zu Herzen und Sinnen sprechend festgehalten haben (z. B. Ludwig Richters „Dresdner Christmarkt“ und viele andere Darstellungen lokaler Christmärkte). So dürfen wir uns, jung und alt, alljährlich aufs neue der weihnachtlichen Budenstadt erfreuen, in der steifbeinige Bergmänner und rotbackige Weihnachtsengel, Puppenstuben und Festungen, die Arche Noah, Kaspertheater und wildes Getier, Märchenbücher und Bilderbogen, goldene Sterne und silberne Ketten in engem Raume friedlich beieinander hausen und „spottbillig“ fleißiger Käufer harren.