Beim Gottlob im Buchholzer Felsenkeller.

Erzgebirgische Heimatblätter Nr. 32 – Sonntag, den 15. August 1926, S. 1

Von L. B.

Von links nach rechts sitzend: Gustav Rödel +, Lehrer Benade (jetzt in Annaberg), Schuldirektor Bartsch (jetzt Oberschulrat a. D. in Flöha), Rud. Schiller, Ernst Selbmann, Paul Schneider, Emil Stöckigt +, Bruno Schneider +, stehend: Kaufmann Steinohrt, Gottlobine Burkert +, Kaufmann Langenstraßen.

Seit Frühjahr 1880 erst, jedoch bis zu dem Zeitpunkte, da es seine Pforte schloß, habe ich das Restaurant „zum Felsenkeller“ gekannt und in Gesellschaft jüngerer Annaberger Freunde, sowie später im Kreise Buchholzer Bürger, die hier verkehrten, manche harmlos heitere Stunde daselbst verlebt: an Wochentagen abends, nach vollbrachtem Tagewerke, des Sonntags mitunter in den späteren Nachmittagsstunden.

Die Gaststätte lockte nicht durch glanzvolle Ausstattung, nicht durch Darbietung seltener materieller Genüsse an Speise und Trank; wer aber, selbst schlichten Sinnes, an Schlichtheit und Einfachheit, verbunden mit erzgebirgischer Treuherzigkeit und Biederkeit und herzlichem Geselligkeitston, auch an Buchholzer Humor seine Freude empfand, der konnte sich hier behaglich fühlen.

Links Gottlob Burkerts Felsenkeller, rechts Bäckermstr. Hempel-Haus

Groß war die Gaststätte nicht: ein leidlich geräumiges Vorderzimmer und ein daranstoßendes kleines, dunkles Hinterzimmer mit einem einzigen nach dem Hofe gerichteten Fenster, beide durch eine altertümliche zweiflügelige, weiße Glastür verbunden, bildeten die Gasträume, der kleine Raum überdies als Speiseraum des Mittags zumeist nur und des Abends, wenn eine wenig Mitglieder zählende Vereinigung ihre Versammlung in ihm abhielt, viele fanden nicht Platz, geöffnet.

Schlicht zeigte sich die Ausstattung der Räume. In dem vorderen Raume, dem eigentlichen Gastzimmer, standen einige einfache, braun angestrichene viereckige Tische, zugleich eingerichtet zum Gebrauch als Spieltische; gewöhnlich einfache Rohrstühle, nicht etwa mit hoher, kunstvoll geschnitzter Lehne, doch mit breiten und bequemen Sitzen versehen, gleichfalls braun gestrichen, luden zum Niedersetzen ein. Ein gutes Stück nur war der in der Südostecke der Gaststube aufgestellte Stammtisch, eine längere, oben und unten abgerundete Tafel mit schöner Platte in echt Eiche, auf dem übrigens neben Streichholzbehälter und weißer Aschenschale, in Höhe von etwa 25 Zentimeter und mit einem Durchmesser von etwa 12 Zentimetern, eine Nachbildung des Juliusturmes stand – als Schnupftabaksdose und stets gefüllt mit einer frischen, guten Prise. Gar mancher der Felsenkellergäste huldigte noch dem Grundsatze: „Wenn sich Herz und Mund tut laben, will die Nase auch was haben“. Die Sitze an der Wand hinter dem Stammtisch und am Kopfende desselben, in der Fensternische, waren gepolstert und mit schwarzem Glanzleder überzogen. Die Mauern, welche den Raum umschlossen, zeigten eine Stärke, wie man sie nur in früheren Jahrhunderten den Hausmauern gab; sie waren doppelt, ja dreifach so dick als bei den in der Neuzeit errichteten Bauten; es war, als gehe von ihnen ein Gefühl beruhigender Sicherheit aus. Die Fenster der Gaststube, zwei herunter nach der Karlsbader Straße, zwei nach der Kirchgasse blickend, besaßen nicht prunkende Spiegelscheiben, sie glichen den Wohnstubenfenstern älterer Bürgerhäuser; der Fensterflügel war durch eine Quersprosse geteilt; doch wurden sie fleißig zwecks guter Lüftung der Gaststube geöffnet. Auch hoch war die Gaststube nicht, indes die Höhe genügte den gesetzlichen Anforderungen. Alles, vom Fußboden bis zur Decke, war blitzsauber, in allem herrschte tadellose Ordnung. – Abends war das Zimmer durch Gaslicht freundlich erhellt.

Zur Unterhaltung der Gäste lagen die „Obererzgebirgische Zeitung“ und der „Kladderadatsch“ aus, wenn wir nicht irren, auch noch einige andere Blätter.

Die verabreichten Speisen und Getränke erwiesen sich durchweg als äußerst preiswert und von ausgezeichneter Güte, kalte und warme Speisen sorgfältig und schmackhaft zubereitet und einladend dem Gaste vorgesetzt, die Biere vorzüglich gepflegt.

Zum Ausschank gelangte das aus bestem Malz und Hopfen gebraute Buchholzer Einfach, von den Gästen scherzhaft unter der Bezeichnung „Bürgerbräu“ bestellt, und dunkles Bayrisch (Kulmbacher), beides verabreicht in blitzblanken Deckelgläsern, je 1/2 Liter fassend und die Gläser gut gefüllt, ohne breite „Halsbinde“, breite „Sahlleiste“ oben. Geschröpft wurde niemand von den Gästen und zwar in keinerlei Form. Mit einem freundlichen „Wohl bekomm’s!“ erhielt der Gast das Glas kredenzt. Das Glas Buchholzer kostete 10 Pfg., das Glas Bayrisch 25 Pfg., der Schnitt Bayrisch, 0,3 Liter, 15 Pfennige. Im Winter gab es mitunter das stärker eingebraute und an Alkohol reichere Buchholzer Doppelbier, das bei der Bürgerschaft den Namen „Krawallbier“ trug, weil es leicht heiße Köpfe machte; zu bezahlen war dieses mit ganzen 12 Pfg. das halbe Liter. Kaffee wurde am Stammtische so gut wie nie getrunken, ein Gläschen Kognak äußerst selten nur, gewöhnlicher Schnaps nie. Zu unmäßigen Trinkgelagen arteten die Zusammenkünfte im „Felsenkeller“ zu keiner Zeit aus, mochte mancher der Gäste, die sich einstellten, manchmal eine noch so durstige Kehle mitbringen, mochten sich die Sitzungen der Gäste bei anregender Unterhaltung auch manchmal etwas in die Länge ziehen. Hätten Nachtwächter noch die Stunden wie in alter Zeit ausrufen müssen, so hätten die Gäste wohl manchmal zu hören bekommen: „Hört, ihr Herren, und laßt euch sagen, die Glocke, die hat zwölf geschlagen“. Ja, bei besonders anregender Unterhaltung soll in Ausnahmefällen die nahe Turmuhr unwillig sogar auf „Eins!“ gewiesenhaben, wenn „Gottlob“ hinter den letzten Gästen die Haustür abschloß. Gewöhnlich trat gegen 11 Uhr Feierabend ein. Daß es auch nur einmal zu ernsten Differenzen unter den Gästen gekommen sei, davon hat man nie etwas vernommen, das war ausgeschlossen bei dem Tone, der die ganze Unterhaltung beherrschte und bei der Zusammensetzung des Gästekreises.

Der Verkehr im „Felsenkeller“ setzte gegen Mittag ein. Da stellte sich der und jener ein, um, auf einem Geschäftsgange begriffen, rasch eine kleine Stärkung zu sich zu nehmen, vielleicht auch, um einen Geschäftsärger hinunterzuspülen, den er eben erlitten. Nach 12 Uhr kamen die im kleinen Hinterzimmer speisenden Tischgäste: unverheiratete Lehrer, junge Kaufleute. Nachmittags herrschte Durchgangsverkehr von Schlettauern u. a. Lebhaft gestaltete sich der Verkehr erst in der Dämmerstunde. Da erschienen u. a. die Glieder des „Tugendbundes“, alte Herren, sämtlich nahe der Siebzig oder hinaus über diese. Sechzigjährige glaubte der Senior unter ihnen als „junge Schnepperlinge“ ansehen zu dürfen, denen noch die rechte Lebenserfahrung mangle. Obwohl umleuchtet vom Lebensabendsonnenschein, war ihr Herz noch voll von Freude am Leben und voll Lebenslust. „Jugendbund“ hätten sie sich in dieser Hinsicht nennen dürfen. Da verkehrten vor bezw. nach dem Abendbrot weiter Kaufleute, Fabrikanten, Lehrer, Kunstgewerbetreibende und sonstige angesehene Bürger am Stammtisch, auch der Ortspfarrer, so lange Rosenhauer in Buchholz lebte. Sein Nachfolger traf sich mit näheren Bekannten im „Waldschlößchen“, und Pfarrer Peschel nahm einen bescheidenen Abendtrunk gern am „Jagdtisch“ in der „Goldenen Kanne“ ein, wo übrigens auch der Pädagogische Verein, der Männerturnverein, der Geschichtsverein u. a. angesehene Vereine ihre Versammlungen abhielten. – Gespielt wurde im „Felsenkeller“ verhältnismäßig wenig. Wenn es geschah, handelte es sich um einen beschränkten Bierskat, um einen niedrigen Geldskat (um Viertelpfennige) oder um einen „Doppelkopf“ bei mäßigem Einsatz. Um 1880, munkelte man, sei im kleinen Hinterzimmer gelegentlich des Buchholzer Jahrmarktes, wenn die Wogen hoch gingen, manchmal auch, nicht zur Freude Gottlob’s, ein Spielchen anderer Art aufgelegt worden. Man verschwieg nicht den Namen dessen, der die Anregung dazu gegeben und die Bank gehalten habe. Mit seinem Weggang von Buchholz hatte das völlig aufgehört. In Annaberg wurde zu dieser Zeit, vor 40 bis 45 Jahren also, nach den Karpfenschmäusen nicht selten dem Glücksspiel gehuldigt. – In lebhaftem Fluß bewegte sich die Unterhaltung am Stammtisch. Stadtpolitik und Stadtklatsch waren ausgeschlossen, sonst aber wurde über alles mögliche Interessante gesprochen, natürlich auch, was die hohe Politik anbelangte, etwas gekannegießert. An Stoff fehlte es nie: die Kaufleute und Fabrikanten waren weitblickende, tatkräftige Männer, mit findigem Kopfe, zum Teil in der Welt herumgekommen und mit allen möglichen Ländern der Erde in Geschäftsverbindung stehend, wie schon die Briefmarken aus fast allen Ländern Europas, aus Afrika, Amerika, Asien und Australien erwiesen, mit denen sie gern Sammler erfreuten. Und regen Geistes, wie sie sich zeigten, konzentrierte sich ihr Interesse keinesweges bloß auf ihr Geschäft. Die Lehrer, Zierden ihres Standes, praktisch tüchtig, wissenschaftlich und künstlerisch gut gebildet und vorwärtsstrebend, die Kunstgewerbetreibenden, begabt mit feinem Geschmack, ausgerüstet mit gutem Kunstverständnis, in ihrem Beruf schöpferisch sich betätigend: alle trugen dazu bei, die Unterhaltung zu beleben und ihr eine bunte Mannigfaltigkeit zu verleihen. Und dann ergriffen vielleicht die Taubenfreunde das Wort und sprachen von ihren Edeltauben, Blauflügeln, Kröpfern und wie die edlen Tiere alle hießen. Waren sie auf dem Gipfel ihrer Begeisterung angelangt, so ergoß sich diese wohl in dem Chorgesang ihres Bundesliedes: „Tauben sind ein schönes Tier, Tauben, die gefallen mir.“ – Der Vorsitzende des Gartenbauvereins lenkte gern auf Fragen der Blumen-, Gemüse- und Obstkultur im lieben Buchholz, wie des Gartenbaues i. a. hin und fand willige Zuhörer, da nicht wenige der Gäste einen Garten ihr Eigen nannten. Dabei flogen nicht selten neckische Scherzworte herüber und hinüber, die fröhliches Lachen auslösten, nicht immer hielten sie sich frei von kleinen Bosheiten. Was die Politik anbelangte, so fühlte man sich einig in der Verehrung des Altreichskanzlers, und tiefe Erregung herrschte bei der Entlassung Fürst Bismarcks. Als Ausdruck seiner Empfindungen für Bismarck legte sich damals der Stammtisch den Namen „Bismarckstammtisch“ zu. An der Wand hinter dem Stammtisch wurde ein mit rotem Seidenplüsch überzogenes Wappenschild angebracht. Ueber dieses hinweg schlang sich in Goldbronze ein Metallband, gehalten von einer Goldschnur, das erhaben in blauer Emaille die Inschrift trug: DIES IST DER NAGEL, DEN FÜRST OTTO VON BISMARCK SEIT 1862 IMMER AUF DEN KOPF GETROFFEN HAT. Der Nagel aber, auf den die Inschrift Bezug nahm, ein über 35 Zentimeter langer, viereckiger, schwarzer, schmiedeeiserner Nagel, oben mit einer schmalen eckigen Kuppe versehen, unten in einer ziemlich langen, scharfen Spitze auslaufend, ruhte hinter dem Bande schräg auf dem roten Seidengrund. Die Idee dieses „Bismarcknagels“ war am Stammtische des Felsenkellers geboren worden; die künstlerische Ausführung des Gedankens war dem Gravieranstaltsbesitzer Georg Franz zu danken. Ein solcher Buchholzer Bismarcknagel wurde dankend vom Reichskanzler entgegengenommen und fand seine Aufbewahrung im Schönhauser Museum. Neben anderen Gegenständen, die auf Bismarck Bezug hatten, ist er in volkstümlichen Schriften über Bismarck abgebildet worden. Uebrigens hing an dem Schilde am Bismarckstammtisch das in der Kunstanstalt von Wezel u. Naumann in Leipzig erschienene, innen und außen künstlerisch ausgestattete „Fürst Bismarck-Büchlein“, „geflügelte Worte aus seinen Reden, Gesprächen, Briefen usw.“ Am Vorabend von Bismarcks Geburtstage hielt der Stammtisch eine schlichte Bismarckfeier ab, das eine mal wurde sie durch Feuerrufe und Sturmgeläut jäh unterbrochen: es brannte der Dachstuhl des damals Schreiberschen Hauses auf der Westseite der mittleren Karlsbader Straße (Nr. 44, 159 A).

An allem, was seine Gäste beschäftigte, nahm Gottlob Burkert, der Wirt, der seine Gäste eigenhändig bediente, vom Büfett oder im Winter von seinem Stuhle neben dem Ofen aus innerlich teil und warf bei der Unterhaltung seine, von reicher Lebenserfahrung und von praktischem Verstande zeugenden Ansichten – niemals unbescheiden – dazwischen.

(Schluß folgt.)